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Ernst Christoph Suttner:
Die Ereignisse des Jahres 1054
und das Verlangen nach Communio in unseren Tagen

 

Darstellung in italienischer Sprache

Unser Thema ist auf die Ereignisse des Jahres 1054 bezogen. Darum gilt es, sich zunächst Klarheit darüber zu verschaffen, was 1054 geschah (bzw. was damals nicht geschah).

1. Es gibt keine nahezu tausendjährige Glaubensspaltung zwischen Katholiken und Orthodoxen

Viele unter unseren Zeitgenossen halten die gegenwärtig bestehende Trennung zwischen Griechen und Lateinern für eine Glaubensspaltung, und sie nennen die Griechen Orthodoxe, und die Lateiner nennen sie Katholiken. In der Art der Fundamentalisten, die voraussetzen, dass alle Welt die Dinge stets so verstanden habe und sie weiterhin so verstehen werde, wie sie selber es tun, projizieren diese Zeitgenossen ihre fragwürdige Meinung vom wirklichen Bestehen einer solchen Glaubensspaltung sogar unkritisch in unvordenkliche Zeiten zurück. So schufen sie die Vorstellung, dass es schon seit mehr oder weniger tausend Jahren im Glauben voneinander getrennte Katholiken und Orthodoxe gäbe. Als schließlich in den Schulen Geschichtsunterricht eingeführt wurde, wollte man den Schülern auch sagen können, wann die Trennung eingetreten sei. Da machte man zunächst den Versuch, die vermeintliche "Glaubensspaltung" in die Tage des Patriarchen Photios von Konstantinopel zu datieren. Nachdem dies als unmöglich erwiesen war, vermutete man ohne nähere Prüfung der Sachverhalte, dass sie sich im Jahr 1054 ereignet habe. So entstand der weit verbreitete Mythos vom sogenannten "großen Schisma im Jahr 1054".

Da wir heute jedoch keine Märchenstunde abhalten, sondern Kirchengeschichte betreiben wollen, müssen wir uns von dem Irrtum distanzieren, dass es 1054 zu einer Glaubensspaltung gekommen sei, und die Bezeichnungen "Katholiken" bzw. "Orthodoxe" dürfen wir nur dann als Konfessionsnamen verwenden, wenn wir über die Zeiten nach dem Konzil von Trient reden. Diese beiden Wörter, die ursprünglich Eigenschaften einer jeden Kirche bezeichneten (und dies übrigens bis auf den heutigen Tag weiterhin tun!), erhielten nämlich nach dem Tridentinum eine zweite Bedeutung und wurden dann auch zu Konfessionsnamen für bestimmte Kirchen (1). Vorher bezeichnete "katholisch" ausschließlich eine von den Eigenschaften einer jeden wahren Kirche, die im uralten Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel aufgezählt sind, wo die Kirche bekanntlich die eine, heilige, katholische und apostolische heißt. "Orthodox" bedeutete bei Orientalen und bei Okzidentalen über Jahrhunderte hinweg dem Wortsinn nach nichts anderes als "rechtgläubig". Noch im 17. Jahrhundert wandte der große Metropolit und Theologe Petr Mogila, der für die Gegner der Union mit Rom ein bedeutender Führer war, die Bezeichnung "orthodox" nicht nur auf seine, sondern auch auf die römische Kirche an (2). Und jeder abendländische Priester, der die heilige Messe auf Latein feiert und dabei das erste Hochgebet (d.h. den alten römischen Messkanon) verwendet, betet auch heute noch für die Gläubigen seiner eigenen abendländischen Kirche mit den Worten: "pro omnibus orthodoxis catholicae et apostolicae fidei cultoribus".

Auf unsere Frage, was die Ereignisse des Jahres 1054 gewesen seien, ist also zu antworten: In Wirklichkeit gab es die Glaubensspaltung zwischen Griechen und Lateinern, die angeblich schon Jahrhunderte vor der Reformation eingetreten sein soll, nicht vor dem 18. Jahrhundert. Zwar sind zwischen Griechen und Lateinern mehr als genug mittelalterliche und frühneuzeitliche Auseinandersetzungen über einzelne Punkte der Glaubenslehre und oftmalige von bestimmten Theologen und Kirchenführern privat erhobene Vorwürfe auf Glaubensverfälschung bezeugt. Aber nicht einmal jene, die persönlich die Existenz einer Glaubensverfälschung für Wirklichkeit hielten, waren der Meinung, dass die Verfälschung auf geschichtliche Ereignisse im Jahr 1054 zurückgehe, und weder eine Kirchenleitung der Griechen noch diejenige der Lateiner haben vor dem 18. Jahrhundert der je anderen Seite amtlich eine Glaubensverfälschung vorgeworfen.

2. Von einer Glaubensspaltung zwischen katholischer und orthodoxer Kirche zu reden, widerspricht der Ekklesiologie des zweiten Vatikanischen Konzils

Ein Katholik, der sich zur Ekklesiologie des 2. Vat. Konzils bekennt, darf auch heute nicht von Glaubensspaltung zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche sprechen, wenn er nicht schwer gegen die Glaubenslehre unserer Kirche verstoßen will. Denn bekanntlich lehrt das 2. Vat. Konzil: In den östlichen Kirchen, die keine Communio mit uns Katholiken haben, "baut sich auf und wächst heran … die Kirche Gottes" (3). Daraus folgen zwei Tatsachen, die zwar auf der Hand liegen, bisher allerdings den Katholiken und den Nichtkatholiken noch recht wenig ins Bewusstsein drangen.

Zum einen ist die Kirche Gottes nach Lehre der katholischen Ekklesiologie unfehlbar, und das bedeutet, dass sie die vom Heiligen Geist geleitete Lehrerin des heiligen Glaubens ist. Zwar kann sie nicht die Fülle der Wahrheit aussprechen. Eine solche Vollendung ist der irdischen Kirche nicht gewährt. Denn nach dem hl. Paulus gilt: Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden, und erst wenn das Vollendete kommt, wird das Stückwerk vergehen (4). Das Leben und Lehren der Kirche auf Erden bleibt von Ungenügen gekennzeichnet und bedarf steter Verbesserung. Die Unfehlbarkeit der Kirche besagt also keine Vollkommenheit ihrer Erkenntnis, bedeutet aber, dass sich dank des Beistands des Heiligen Geistes keine Kirche von der Wahrheit abkehrt, dass sie vielmehr stets auf die Wahrheit zugeht. Es wäre ein eklatanter ekklesiologischer Widerspruch, wenn ein Katholik mit dem 2. Vat. Konzil die orthodoxe Kirche unsere Schwesterkirche nennt, gleichzeitig aber besorgt wäre, ihre dogmatische Lehre würde der Glaubenswahrheit widersprechen.

Sodann belehrt uns das Glaubensbekenntnis, dass die heilige, katholische und apostolische Kirche eine einzige Kirche ist. Eine jede Gemeinschaft, die voll und zu Recht Kirche Christi genannt wird, gehört der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche zu. Was wir im ökumenischen Dialog zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche als Ziel erhoffen, ist also von Gott her längst schon verwirklicht. In seiner großen Güte hat er beide Dialogpartner bereits miteinander zu seiner einen und einzigen Kirche gemacht. Nachdem das 2. Vat. Konzil die östlichen Kirchen im vollen ekklesiologischen Sinn als Schwesterkirchen anerkannte, kann also das ökumenische Verlangen in unseren Tagen nur sein, die Communio wieder aufleben zu lassen, damit die Einheit, die längst von Gott her besteht, auch empirisch erkennbar werde.

Gemäß der Ekklesiologie des 2. Vat. Konzils sind Katholiken und Orthodoxe nicht nur nicht "im Glauben getrennt", sie sind es in überhaupt keiner Hinsicht, die vor Gott Gültigkeit besäße. Denn der Wahrheit und der Gnade nach sind sie geeint. Sobald sie dies auch in menschlicher Weise zur Kenntnis nehmen, wird das gottwidrige Schisma, das zwischen ihnen besteht, ein Ende haben.

3. Gibt es Schismen auch ohne Glaubensspaltung?

Irgendwie ist es bei uns üblich geworden, alle Spaltungen in der Kirche ebenso aufzufassen wie jene Brüche, zu denen es im 16. Jahrhundert infolge des Auftretens der Reformatoren kam. Durch deren Einspruch wurden aus der von den Vorvätern beider Seiten vorher gemeinsam gelebten kirchlichen Tradition geteilte theologische Lehrüberlieferungen. Denn im 16. Jahrhundert brach ein Streit darüber aus, ob alles, was bislang gemeinsames Gut war und was die einen auch weiterhin für heilig hielten, dem Evangelium entspräche. Der Widerspruch der einen gegen die bislang gemeinsame Kirchentradition und die Anhänglichkeit der anderen an sie wurden mit solcher Heftigkeit vorgetragen, dass aus den theologischen Parteien verschiedene Konfessionen wurden. Da die Parteien das, was sie verwarfen bzw. fortpflegten, für Punkte ihrer Glaubenslehre erachteten, gilt ihnen ihre Trennung als Glaubensspaltung.

Eine Zeit, in der die Vorväter der heutigen Katholiken und der heutigen Orthodoxen ebenfalls eine gemeinsame kirchliche Tradition gepflegt hätten, aus der sie zu zwei getrennten Strömungen hätten auseinanderbrechen können, gab es nie. Wie es nämlich im Ökumenismusdekret des 2. Vat. Konzils heißt, ist "das von den Aposteln überkommene Erbe in verschiedenen Formen und auf verschiedene Weise übernommen und daher schon von Anfang an in der Kirche hier und dort verschieden ausgelegt worden." (5)

Die mit diesen Worten beschriebene Verschiedenheit kann bei "Mangel an Verständnis und Liebe" (6) Befremden verursachen, aber ihr liegt kein Widerspruch zu einer vorangegangenen Gemeinsamkeit zugrunde wie im Fall der innerabendländischen Spaltungen des 16. Jahrhunderts. Vielmehr ergeben die verschiedenen Sichtweisen von der einen Wahrheit und die unterschiedlichen Formen im kirchlichen Leben, welche die Schwesterkirchen aufgrund ihrer jeweiligen historischen Situation erlangen, eine Bereicherung für die Gesamtkirche. Die Gesamtkirche darf nämlich zusammenfassen, was die Einzelkirchen sehen. Vergleichbar ist dieser Vorgang mit der Tatsache, dass es für das volle Wissen um die Gestalt eines hohen Berges des "Addierens" der Ansichten bedarf, die der Berg von seinen verschiedenen Seiten her bietet. Voraussetzung für das Zustandekommen einer Gesamterkenntnis ist freilich, dass nicht auf verschiedene Berge geschaut wird, sondern dass man von verschiedenen Blickwinkeln her einen und denselben Berg betrachtet. Ebenso dürfen die Einzelkirchen von ihrer Warte her auf die Wahrheit des Evangeliums schauen und bekannt machen, was sie unter Führung durch den Heiligen Geist erfassen können. Die Unterschiede in ihren Aussagen über den heiligen Glauben und in ihrer Frömmigkeitspraxis, zu denen es dabei kommt, stören ihr Eins-Sein nicht, solange die Schwesterkirchen einander vertrauen und überzeugt sind, dass sich die nuancenreichen Einsichten und Verhaltensweisen auf das nämliche apostolische Erbe beziehen. Kommt es hingegen zwischen ihnen zu so massiver Entfremdung, so dass sie dieses Vertrauen verlieren, verursacht dies zwar keine wirkliche Glaubensspaltung, kann aber doch bewirken, dass sie sich voneinander genauso entschieden abwenden, wie wenn zwischen ihnen eine Glaubensspaltung bestünde. Darum spricht das Ökumenismusdekret des 2. Vat. Konzils auch von "zwei besonderen Kategorien von Spaltungen, durch die der nahtlose Leibrock Christi getroffen wurde" (7).

4. Der tatsächliche Charakter der Trennung zwischen Katholiken und Orthodoxen

Obgleich es also zwischen Katholiken und Orthodoxen keine Glaubensspaltung gibt, kann doch niemand bestreiten, dass sie gegenwärtig zueinander im Schisma leben und dass auch in der Vergangenheit die Zeiten, in denen Lateiner und Griechen zueinander im Schisma standen, länger währten, als die Zeiten, in denen sie Communio pflegten. Was also ist ein Schisma, wenn es keine Glaubensspaltung ist? Wenn es das nicht ist, was die meisten unserer Zeitgenossen heutzutage mit "Schisma" gleichzusetzen pflegen?

Blicken wir, um auf diese Frage die Antwort zu finden, in die Apostelgeschichte, dorthin wo dargelegt wird, wie die Kirche sein soll. Dort ist zu lesen: "Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele", (8) und damit ist gemeint: Festhalten an der Glaubenswahrheit; Gemeinsamkeit im alltäglichen Leben (bis hin zur Gütergemeinschaft); gemeinsamer Vollzug des Brotbrechens (= des sakramentalen Lebens) und Gebetsgemeinschaft. Denn es heißt in der Apostelgeschichte überdies: "Die Menge der Gläubigen hielt an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten … Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam." (9)

Doch schon aus den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte und überhaupt aus allen Studien zur Kirchengeschichte ergibt sich: die Rede von "dem einen Herzen und der einen Seele" ist die Beschreibung eines Ideals, das die Kirche weder in den Tagen der Apostel noch später jemals erreichte. Je weiter sich die tatsächlichen wechselseitigen Beziehungen von dem Ideal entfernten, mit desto mehr Recht passt auf den geschichtlichen Zustand die Bezeichnung "Schisma". Dazu musste es gar nicht zum Streit über die Glaubenswahrheit gekommen sein.

5. Beispiele aus der Kirchengeschichte für Schismen, zu denen es gekommen war wegen Mängel im Leben, nicht in der Lehre

  1. Die Redeweise über die Inkarnation des Gottessohnes, die das Konzil von Chalkedon (451) den spätantiken Ortskirchen als Dokumentation ihrer Rechtgläubigkeit hatte vorschreiben wollen, wurde nicht von allen Ortskirchen übernommen. Um den daher fortbestehenden Dissens über die Redewendungen aus der Welt schaffen, ließ Kaiser Zenon vom Konstantinopeler Erzbischof Akakios ein sogenanntes "Henotikon" (10) verfassen, publizierte es im Jahr 482 und schrieb allen Kirchen des Reiches vor, es als ihr Glaubensbekenntnis zu betrachten. Man muss einräumen, dass das Henotikon dem Inhalt nach rechtgläubig war und dem, was das Konzil von Chalkedon lehren wollte, nicht widersprach, obgleich es am Wortlaut seiner Beschlüsse "vorbeiging". (11) Die Kirche von Konstantinopel, deren Bischof es verfasst hatte, fügte sich dem kaiserlichen Befehl, doch die Kirche von Rom, die sich der kaiserlichen Einmischung in Glaubensfragen widersetzen wollte, kündigte ihr deshalb die Communio auf.

    Erst auf dem Konzil von Chalkedon hatten der Kaiser und seine bischöfliche Partei den Aufstieg Konstantinopels zum Kirchenzentrum durchsetzen wollen. Als etwa 30 Jahre danach das Henotikon erstellt wurde, war der Aufstieg noch nicht einmal im ganzen Römerreich anerkannt. Aber schon damals begann ein Schisma zwischen Rom und Konstantinopel, das bis zum Jahr 519, ca. 35 Jahre, währte.

  2. In der Schrift "Zerrissene Christenheit" stellt Yves Congar heraus, dass Rom und Konstantinopel in den Jahrhunderten, in denen sechs von den sieben den Lateinern und Griechen gemeinsamen ökumenischen Konzilien gefeiert wurden, insgesamt mehr als 200 Jahre zueinander im Schisma standen. (12) Den Griechen und den Lateinern jener Zeit kam es aber, wenn sie voneinander getrennt waren, nicht in den Sinn, der anderen Seite das Kirche-Sein zu bestreiten. Deswegen konnten ihre Bischöfe einander auf den gemeinsamen ökumenischen Konzilien als Mitbrüder im gleichen Hirtenamt begegnen. Zwar hatten sich die Kirchen schwere Missstände vorgeworfen und gemeint, derentwegen zum Abbruch der Communio gezwungen zu sein, um so die Bereinigung dessen zu erzwingen, was sie für verfehlt hielten. Trotzdem zweifelten sie nicht daran, dass sie miteinander die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche bildeten.

  3. Bereits in der Spätantike hatte es Teilungen des Römerreiches gegeben. Dabei wurden die Grenzen nicht willkürlich, sondern unter Beachtung sozio-kultureller Gegebenheiten gezogen. Darum gab es oft genug Spannungen zwischen den beiden Teilreichen, die sich auch auf den kirchlichen Bereich auswirkten und in der griechisch-lateinischen Christenheit Bipolarität und Rivalitäten verursachten. Sogar die theologische Interessenslage der griechischen und der lateinischen Väter war bekanntermaßen verschieden aufgrund der Mentalitätsunterschiede zwischen Ost und West im Römerreich. Doch die Reichsteilungen der Spätantike waren zwischen den Herrschern verabredet worden, und so konnten sich die beiden Kaiser untereinander absprechen, um in Krisensituationen der Kirche ein gemeinsames Konzil der griechisch-lateinischen Christenheit einzuberufen, welches dann die brüchig gewordene, vielleicht sogar verloren gegangene Communio erneuerte.

    Eine neue Situation trat hingegen ein, als im Jahr 800 Karl der Große ohne Absprache mit dem Osten zum Römerkaiser gekrönt wurde. Er hätte der römische Kaiser schlechthin sein wollen, nicht nur ein Herrscher über ein westliches Teilreich. In Konstantinopel erachtete man seine Krönung für nicht rechtens und erhob ebenfalls einen Römerkaiser. Welcher von beiden Kaisern bzw. welcher Nachfolger welchen Kaisers hätte von da an nach alter Weise ein gemeinsames Konzil einberufen und überall für die Durchsetzung der Konzilsbeschlüsse sorgen können?

    Kirchen, die nicht mehr miteinander sprechen können, verlieren mit der Zeit untereinander auch die Verbindung.

  4. Nach intrigenreichen Vorgängen war 858 der Konstantinopeler Patriarch Ignatios abgesetzt worden. An seiner Stelle wurde Photios, ein hochgebildeter Mann, der bisher Laie gewesen war, gewählt und aus dem Laienstand sofort in den Patriarchenrang erhoben. Die Partei der Zeloten (13) protestierte gegen die Absetzung des bei ihnen beliebten Ignatios, und Papst Nikolaus I. ergriff ihre Partei, denn nach römischem Brauch war es unerhört, einen Laien ohne Erfahrung im klerikalen Dienst sofort zum Bischof oder gar zum Patriarchen zu erheben. Nikolaus vertraute darauf, dass die römische Norm auch in Konstantinopel gut wäre, und verlangte die Absetzung des Photios und die Wiedereinsetzung des Ignatios. Als Antwort schrieb Photios eine Reihe polemischer Briefe, darunter seine bekannte Enzyklika an die östlichen Patriarchen. Dank seiner Gelehrsamkeit wusste er um zahlreiche Verschiedenheiten zwischen den griechischen und den lateinischen Bräuchen und deutete sie als "Abweichungen" der Lateiner von der wahren Lehre und von den heiligen Riten der Griechen. Hatte es Papst Nikolaus den Byzantinern zum Vorwurf gemacht, dass sie nicht den Normen der Römer folgten, so griff nun Photios die Lateiner an wegen ihrer besonderen Formulierungen für den gemeinsamen Glauben, wegen ihrer Disziplin und wegen ihrer gottesdienstlichen Bräuche. (14)

    Nach einer Absetzung des Photios durch den Kaiser im Jahr 867, nach einer Synode von 869/70 mit römischen Legaten, die den abgesetzten Photios auch noch verurteilte, und nach der Wiedereinsetzung des Photios ins Patriarchenamt im Jahr 877 kam es 879/80 in Konstantinopel zu einer weiteren Synode, an der wieder römische Legaten teilnahmen. Diese Synode bestätigte den Grundsatz, dass jeder Patriarchalsitz die alten Gewohnheiten seiner Überlieferung beibehalten solle, die Kirche von Rom ihre eigenen Gewohnheiten, die Kirche von Konstantinopel die ihrigen, ebenso die orientalischen Throne. (15)

    Der Ausgang der Ereignisse von 879/80 versieht uns mit den angemessenen Beurteilungskriterien für die Lektüre der antirömischen Polemik des Photios aus der Zeit vor 869/70. Denn wir lernen begreifen, dass Photios den Vorwürfen an die Lateiner nur untergeordnete Bedeutung beigemessen hatte. Einem neuzeitlichen Leser, der seine Darlegungen mit der apologetischen Literatur der letzten 200 Jahre vergleicht, könnte es wegen gewisser Ähnlichkeiten des Wortlauts scheinen, dass seine Ausführungen zumindest hinsichtlich der wichtigeren Streitpunkte in gleicher Weise wie die neuzeitlichen Texte eine grundsätzliche Verwerfung der römischen Lehren und Gepflogenheiten darstellten. Ein solches Verständnis kann jedoch bei ihm nicht vorgelegen haben. Denn anders als die Konfessionalisten der Neuzeit hielt er die gerügten "Verirrungen" für kompatibel mit der Kircheneinheit. Die Römer "verbesserten" in keinem einzigen Punkt, was ihnen Photios vorgeworfen hatte. Dennoch behielt dieser die Kirchengemeinschaft mit ihnen bis an sein Lebensende bei. Er bewertete die gerügten "Verirrungen" der lateinischen Kirche eben als "nur möglicherweise problematisch", aber nicht als Verrat an der wahren kirchlichen Überlieferung.

    Im Abendland vergaß man mit der Zeit den Friedensschluss zwischen Photios und dem Papst, und als man im 19. Jahrhundert für den Kirchengeschichtsunterricht nach dem Zeitpunkt suchte, zu dem das "griechische Schisma" begonnen hätte, entsetzte man sich so sehr über den Wortlaut der polemischen Schriften des Photios, dass man zunächst meinte, ihn als den "Schuldigen" hinstellen zu können. Man apostrophierte die Griechen (nach dem Vorbild der überlieferten "Ketzerbezeichnungen" wie "Arianer", "Nestorianer", "Jakobiten" etc.) als "Photianer". Auch in offiziellen Texten kam dies vor, z.B. in einem Hirtenbrief des Pariser Erzbischofs Sibour zur Zeit des Krimkriegs. (16) Als sich die kirchengeschichtliche Forschung jedoch der Ereignisse von 879/80 annahm und entdeckte, dass Photios in seiner 2. Amtszeit mit Rom in Communio stand, (17) musste von dieser Deutung wieder abgerückt werden, und man kam auf den Einfall, den Mythos vom sogenannten "großen Schisma im Jahr 1054" zu ersinnen.

    Erfahrungsgemäß brauchen kuriale Kreise stets etwas länger, bis sie einen Fehler korrigieren. 1933 begegnet die unbrauchbare Bezeichnung "Photianer" immer noch im Vorwort einer von der römischen Kurie veröffentlichten Liste der katholischen Titularbistümer. (18)

  5. Zu Schismen wegen Mängel im Leben, nicht in der Lehre, kam es auch innerhalb der westlichen und innerhalb der östlichen Christenheit. Auf westlicher Seite ist diesbezüglich an das spätmittelalterliche Papstschisma zu erinnern, denn ab 1378 zerfiel die lateinische Kirche wegen zweier und zeitweise sogar dreier Päpste in Papstparteien, zwischen denen keine Communio bestand. Dennoch wurden die Parteien - und werden sie bis heute in den Handbüchern der Kirchengeschichte - miteinander als die eine abendländische Kirche gezählt, nicht als voneinander abgehobene Kirchen. Denn zwischen ihnen war nur die Kirchenleitung gebrochen, zu doktrinären Verurteilungen oder zu Streitigkeiten in liturgischer Hinsicht war es nicht gekommen.

    Wo man auf östlicher Seite nach neuen Autokephalien verlangte, gab es und gibt es bis heute Abspaltungen ganzer Landeskirchen von der Gesamtorthodoxie, denen nur kanonische, jedoch keine doktrinären oder liturgischen Differenzen zugrunde liegen.

  6. Die gesamte Kirchengeschichte wäre durchzugehen, wenn alles aufgespürt werden sollte, was Spaltung verursachte, ohne dass dabei die Glaubenslehren geändert worden wären. Fassen wir daher zusammen, dass das Jahr 1054 zu spät angesetzt ist, um auf den Anfang des Spaltungsprozesses zwischen Griechen und Lateinern verweisen zu können, und dass es zu früh angesetzt ist, um sein Ergebnis zu meinen. Denn die Entfremdung, der lange Zeit nicht mehr durch gemeinsame Konzilien gesteuert wurde, wuchs mehr und mehr

    • wegen der Normanneneinfälle in Süditalien und Griechenland im 11. Jahrhundert und infolge des gescheiterten Rekonziliationsversuchs von 1054, der damit zusammenhing;
    • wegen wirtschaftlicher Erfolge italienischer Kaufleute bei den Griechen und wegen des dadurch erregten Neides;
    • wegen der Kreuzzüge, ihrer traurigen Begleiterscheinungen und der tiefen Verletztheit der Griechen aufgrund des Gedenkens an sie, insbesondere an die Grausamkeiten anlässlich der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1204;
    • wegen der lateranensischen Kirchenrechtsverfügung, dass die griechischen Bischöfe Vikare der lateinischen sein sollten;
    • wegen der Expansion Ungarns, Polens und des deutschen Ordens in Gebiete mit Kirchen griechischer Tradition und der dabei vollzogenen "Umtaufen" von Orientalen zu Lateinern;
    • wegen des abendländischen Kulturwandels mit neuen Denkmustern in Philosophie und Theologie zur Zeit der Scholastik;
    • wegen der seit der kluniazensischen Reform sich steigernden innerkirchlichen Herrschaftsansprüche der Päpste und weil viele orthodoxe Apologeten darüber das ekklesiologisch Berechtigte an der Rolle des ersten Bischofs (fast) aus dem Blick verloren;
    • wegen des Scheiterns aller weiteren Unionsversuche bis einschließlich jenes des Florentinums;
    • wegen des Gefühls der Griechen, vom Abendland in der Türkengefahr verraten worden zu sein;
    • wegen eines abermaligen Kulturwandels der Lateiner mit wieder neuen philosophischen, sozialwissenschaftlichen und theologischen Denkmustern in nachtridentinischer Zeit;
    • wegen der sozialen und politischen Rolle der orthodoxen Bischöfe im türkischen Reich und wegen der Einmischung abendländischer Diplomaten in konfessionelle Angelegenheiten. (19)

    Was hier benannt wurde, sind nicht-theologische Faktoren. Als solche konnten sie selbstverständlich die Lehre der Kirchen nicht ändern. Doch das wechselseitige Vertrauen zwischen Lateinern und Griechen haben sie zum Verkümmern gebracht, und das gleichzeitig anwachsende Misstrauen veranlasste, dass sich in den Kirchen immer wieder Stimmen erhoben, die auf gegenseitiges Verurteilen drängten. Denn nach und nach hörten zahlreiche Theologen beider Seiten auf, die von jeher verschiedenen theologischen Aussagen als Ergänzungen zu bewerten; statt dessen begannen sie, alles, was abwich von ihrer eigenen Sicht für häresieverdächtig einzustufen.
  7. Insbesondere nach dem 2. Konzil von Lyon (1274) begann eine Zeit, in der man die Divergenzen intensiv studierte, und man meinte, dass das Schisma, falls es überhaupt begründet ist, ihretwegen ausgebrochen sein müsse. Wer das Schisma überwunden sehen wollte, studierte daher die theologischen Divergenzen und versuchte zu zeigen, dass es keine Begründung für sein Fortbestehen gibt, weil sowohl die lateinische als auch die griechische Lehre dem Worte Gottes gemäß ist. Die Gegner der Aussöhnung studierten dieselben Fragen; sie suchten zu erweisen, dass die Auffassungen der jeweils anderen Seite als Irrlehren einzustufen seien, und dass deshalb mit ihnen keine kirchliche Gemeinschaft erlaubt sei. Wiederum waren nicht-theologische Faktoren mit am Wirken. Wer sich nämlich der spannungsvollen Geschichte lebendig bewusst war, konnte leicht von der Inkompatibilität der lateinischen und der griechischen Lehren überzeugt werden, während jene, die wegen der Schwäche des byzantinischen Reichs auf Schutz und Hilfe durch die abendländischen Mächte hofften, für die gegenteilige These offen waren.

    Um dem Streit auf den Grund zu gehen, kamen 1438 lateinische und griechische Bischöfe zum Konzil von Florenz zusammen. Dabei gingen sie davon aus, dass ihre Kirchen zueinander im Schisma stünden, anerkannten aber, dass die heiligen Sakramente der Kirche Christi auf beiden Seiten gefeiert werden. Weder die Taufe, noch die Weihen der jeweils "anderen Seite" waren umstritten. Vielmehr hielten sich die Bischöfe gegenseitig für Mitbrüder im Episkopat, die miteinander den Auftrag haben, die Glaubenslehren und die Glaubenspraxis beider Seiten zu erforschen. (20) Sie hatten zu prüfen, ob die Unterschiede, die es zwischen ihnen in der Lehre und im kirchlichen Leben gab, innerhalb des Rahmens der Rechtgläubigkeit zulässig sind, oder ob vielleicht die vier Punkte, die damals als die hauptsächlichen Streitfragen galten, den rechten Glauben in Frage stellten.

    Die Konzilsväter anerkannten die Rechtgläubigkeit beider Seiten. Hinsichtlich der vier Punkte stellten sie fest,

    • dass das Symbolum mit und ohne "filioque" rechtgläubig ist; (21)
    • dass bei der Eucharistie gesäuertes und ungesäuertes Brot verwendet werden kann;
    • dass man nicht unbedingt vom Purgatorium reden muss, wenn man über die Verstorbenen spricht und für sie betet;
    • und dass der römische Bischof so, wie es von jeher "in den Akten der ökumenischen Konzilien und in den heiligen Kanones enthalten ist", als erster Bischof der Christenheit anerkannt werden soll.

    Die Florentiner Konzilsväter sahen keine Veranlassung, von den Griechen zu verlangen, dass sie das filioque oder das ungesäuerte Brot übernähmen; dass sie beim Reden über die Verstorbenen den Ausdruck "Purgatorium" verwendeten; oder dass sie den jüngeren westlichen Entwicklungen im Verständnis vom Papstamt ausdrücklich zustimmten. (22) An die Lateiner stellten sie nicht das Ansinnen, künftig wegzulassen, was auf griechischer Seite Anstoß erregt hatte. Gemäß dem Beschlussdokument des Konzils durften beide Seiten, Lateiner und Griechen, ohne Abstriche bei ihren eigenen Überlieferungen verbleiben, aber sie sollten die jeweils anderen nicht mehr als irrgläubig bezeichnen.

    Mit der Anerkennung beider Traditionen als rechtgläubig ging die klare Einsicht einher, dass die Gläubigen beider Seiten, die bisher untereinander uneins waren, dennoch Kinder derselben Mutter Kirche waren; dass beide Seiten einander auch im Schisma durch dieselben Gnadengaben des Heiligen Geistes verbunden waren; dass deswegen zwischen ihnen volle Kirchengemeinschaft möglich ist. Also fassten die Väter den Beschluss, dass die volle Communio aufgenommen werden solle, ohne dass sie dafür von den einen oder von den anderen irgendwelche Korrekturen eingefordert hätten. Die Einleitung ihres Beschlusstexts drückt die große Freude aus, die sie über die von ihnen erlangte Einsicht empfanden:

    "Freuen sollen sich die Himmel, und es frohlocke die Erde, denn die Mauer, welche die westliche und östliche Kirche trennte, ist beseitigt, zurück kehrten Friede und die Eintracht. Nun hat jener Schlussstein Christus, der aus beiden eins machte, durch das starke Band der Liebe und des Friedens beide Seiten verbunden, er vereint sie und hält sie durch die Liebe ewiger Einheit zusammen. So erstrahlte nach jener großen Finsternis der Verzagtheit und nach dem abgrundtiefen Dunkel, das durch die lange Spaltung bedingt war, für alle das heitere Licht der ersehnten Einheit.

    Freuen soll sich auch die Mutter Kirche, denn sie sieht ihre Kinder, die bisher untereinander uneins waren, nunmehr zu Einheit und Frieden zurückkehren; sie, die zuvor wegen ihrer Trennung bitterlich weinte, danke aufgrund ihrer jetzigen wunderbaren Einheit dem allvermögenden Gott mit unaussprechlicher Freude. (23) Alle Gläubigen auf dem ganzen Erdkreis sollen sich mitfreuen und alle, die den Namen Christi tragen, zusammen mit der Mutter, der katholischen Kirche, frohlocken."

  8. Leider wurde aber die Einsicht der Florentiner Konzilsväter auf beiden Seiten übergangen. Papst Klemens VIII. traf 1595 sogar eine kirchenamtliche Verfügung, die gegenläufig war. Im August 1595 hatte nämlich die Synode der Kiever Metropolie einstimmig für ein Ansuchen um die Communio mit Rom votiert, das gemäß den Florentiner Beschlüssen konzipiert war. In seiner Antwort, in der Bulle "Magnus Dominus" vom 23.12.1595, legte Klemens VIII. Modalitäten für die Union fest, die den Florentiner Entscheidungen klar widersprachen. (24) Dennoch übten beide Seiten - allen Spannungen zum Trotz - auch im 17. Jahrhundert noch eingeschränkte Sakramentengemeinschaft. Erst ab dem 18. Jahrhundert bezweifelten die Katholiken konsequent, dass orthodoxe Bischöfe und Priester die Sakramente legitim verwalten, und Rom verbot 1729 jegliche "communicatio in sacris" zwischen Gläubigen, die dem Papst verbunden waren, und solchen, die es nicht waren. Die griechischen Patriarchen reagierten und erklärten 1755 die Katholiken für ungetauft. (25)

    Da beide Seiten damit einen ekklesiologischen Exklusivanspruch erhoben, eskalierte damals ihre gegenseitige Ablehnung zu wechselseitiger Verwerfung. Von diesem Moment an steht zwischen Griechen und Lateinern tatsächlich eine Glaubensfrage, denn beide Seiten hielten nur mehr sich selbst für die Kirche Christi, die "andere Seite" aber nicht mehr für seligmachend.

6. Wie nach der Communio suchen und die Schismen beenden?

Als Papst Johannes Paul II. am 5. Juni 1991 der Polnischen Orthodoxen Kirche begegnete, führte er aus: "Der Dialog der Wahrheit, Aufrichtigkeit und Liebe ist der einzige Weg zur vollen Einheit. Er ist ein Geschenk Gottes, ein unersetzliches Mittel auf dem Weg zur Aussöhnung." (26)

Der Ausspruch ist gültig für die beiden Arten von Schismen, die das Ökumenismusdekret des 2. Vat. Konzils unterscheidet.

  1. Ein theologischer Dialog, der um einer wirklichen Glaubensspaltung willen geführt wird, muss zunächst nach den Gnadengaben Ausschau halten, die der einen und der anderen von den dialogführenden Gemeinschaften geschenkt sind. Diese Gaben zu würdigen, wo immer sie sich finden, sich über sie zu freuen und dem Herrn zu danken, dass er sie der eigenen und der anderen Kirche verlieh, ist die geistliche Aufgabe beim Dialog. Es ist eine wahrhaft theologische Aufgabe, denn recht verstandene Theologie ist nicht einfach forschendes Suchen, sondern mit lobpreisendem Dank an Gott verbundenes Nachdenken über das Heilswerk.

    Sodann ist nach dem Gewicht der Unzulänglichkeiten zu fragen, die sich zwischen beiden Kirchen aufgetürmt haben. Auch deren Gewicht ist zu prüfen, und es obliegt der theologischen Unterscheidungsgabe der dialogführenden Parteien, das Gewicht der den Kirchen verliehenen Gnadengaben gegen das Gewicht der Unzulänglichkeiten abzuwägen und noch vor einer Kircheneinigung die Entschärfung der widersprüchlichen Differenzen zu sogenannten "versöhnten Gegensätzen" zu erreichen. Denn einen wirklichen Widerspruch in der Glaubenslehre kann es in der geeinten Kirche nicht geben.

  2. Da im Dialog zwischen der orthodoxen und der katholischen Kirche zwei Kirchen aufeinandertreffen, denen nach Gottes Plänen eine je besondere Tradition eignet, darf bei ihm nicht die Verminderung der Unterschiede erstrebt werden, vielmehr muss es das Hauptanliegen sein, sich um größere Toleranz für die Verschiedenheiten zu bemühen.

    Doch derzeit besteht hinsichtlich der ekklesiologischen Überzeugungen, mit denen man an die Arbeit herangeht, ein gewichtiger Unterschied. Wie oben ausgeführt wurde, kann es für die katholischen Teilnehmer am Dialog keinen Zweifel geben, dass die orthodoxe Partnerkirche die Glaubenslehre nicht verfälschte. Wenn in dem einen oder anderen Punkt dennoch Zweifel auftauchen, kann dies für die katholischen Dialogpartner nicht bedeuten, dass sie die Orthodoxie vielleicht doch von einer häretischen Lehre zurückholen müssten; es kann nur heißen, dass bezüglich dieser Punkte die Lehre beider Kirchen besser darzulegen ist, damit der falsche Eindruck widerlegt werde, eine der beiden Kirchen sei in die Irre gegangen.

    Auch auf orthodoxer Seite halten viele Theologen und Kirchenführer die katholische Seite für ihre Schwesterkirche. Mit ihnen können die katholischen Teilnehmer den Dialog in der Weise führen, die auch für sie selber die richtige wäre. Was aber die Anerkennung von uns Katholiken als Schwesterkirche der Orthodoxie anbelangt, gibt es (noch) keine verbindliche orthodoxe Aussage. Sogar scharfe einschlägige Ablehnungen liegen vor wie zum Beispiel eine von den Repräsentanten der 20 Athosklöster verabschiedete Stellungnahme zum Dokument der Dialogkommission von Balamand. (27) Bei ihnen - und nicht nur bei ihnen allein - besteht gegenwärtig der Mangel an wechselseitigem Vertrauen noch fort, der zwischen Katholiken und Orthodoxen zu den gegenseitigen Verwerfungen des 18. Jahrhunderts geführt hatte. Sie nehmen weiterhin an, dass katholische Glaubensaussagen, die sich von der orthodoxen Theologie unterscheiden, keine Aussagen seien, die von einem anderen Gesichtspunkt her das heilige Erbe, das auch die orthodoxe Kirche lehrt, zum Ausdruck brächten. Vielmehr meinen sie, es handle sich bei diesen Aussagen um Verfälschungen des kirchlichen Erbes, und vor der Erlangung der Communio müsse richtig gestellt werden, was die Katholiken im Lauf der letzten Jahrhunderte verdorben hätten.

  3. Es ist ein schwieriges Unterfangen, einen Dialog zu führen, bei dem für die eine Seite ekklesiologisch erwiesen ist, was wichtige Repräsentanten der anderen Seite erst noch untersuchen zu müssen meinen. Da jedoch nur zwischen Schwesterkirchen Communio bestehen kann und es die unerlässliche Voraussetzung für die Wiederaufnahme der Communio zwischen zwei Gemeinschaften ist, dass sie Schwesterkirchen sind und sich als solche auch anerkennen, haben wir - um Positives bei unserem Verlangen nach Wiedererlangen der Communio erreichen zu können - in Geduld darauf zu warten, dass die gesamte Orthodoxie uns Katholiken als ihre Schwesterkirche anerkennt und zustimmt, dass das westliche geistliche und liturgische, disziplinäre und theologische Erbe genauso zur vollen Katholizität und Apostolizität der Kirche gehört, wie das 2. Vat. Konzil dies von den östlichen Traditionen anerkannte. (28)

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  1. Vgl. V. Peri, Le vocabulaire des relations entre les Églises d'Occident et d'Orient jusqu'au XVIe siècle, in: Irénikon 65(1992)194-199.

  2. Vgl. W. Hryniewicz, Unio sine destuctione, in: ders., Przeszlosc zostawic Bogu, Opole 1995, S.81-111; Suttner, Metropolit Petr Mogila und die 1644 verfasste "Sententia cuiusdam nobilis Poloni graecae religionis" über die Einigung der Kirchen, in: Rappert (Hg.), Kirche in einer zueinander rückenden Welt, Würzburg 2003, S.394-405 (beide Aufsätze mit Lit.).

  3. Unitatis redintegratio, 15. Eventuellen Versuchen, diesen Worten nur einen abgeschwächten Sinn beizulegen, schob das Dokument "Dominus Jesus" der römischen Kongregation für die Glaubenslehre vom 6.8.2000 einen Riegel vor, denn in Art. 17 hält es ausdrücklich fest: "Die Kirchen, die zwar nicht in vollkommener Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen, aber durch engste Bande, wie die apostolische Sukzession und die gültige Eucharistie, mit ihr verbunden bleiben, sind echte Teilkirchen. Deshalb ist die Kirche Christi auch in diesen Kirchen gegenwärtig und wirksam, obwohl ihnen die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche fehlt, insofern sie die katholische Lehre vom Primat nicht annehmen …"

  4. Vgl. 1 Kor 13,9-10.

  5. Unitatis redintegratio, 14.

  6. Ebenda.

  7. Unitatis redintegratio, 13.

  8. Vgl. Apg 4,32.

  9. Vgl. Apg 2,42-44.

  10. Die Bezeichnung ist aus dem griechischen Wort "henosis" = "Einigung" gebildet.

  11. Um sich recht in die Denkweise des Kaisers Zenon, des Erzbischofs Akakios und der damaligen Ortskirchen, die den Konzilsbeschluss nicht übernahmen, zu versetzen, ist zu bedenken, dass die Kirche auch vor 451 (vor dem Konzil von Chalkedon) die Wahrheit über die Inkarnation zu predigen verstand. Sie tat es damals ohne die Formulierungen im Wortlaut des Konzilsbeschlusses, den es ja noch gar nicht gab. Warum sollte nach 482 unmöglich sein, was vor 451 selbstverständlich war? Vgl. auch Suttner, Vorchalcedonische und chalcedonische Christologie: die eine Wahrheit in unterschiedlicher Begrifflichkeit, in: Rappert (Hg.), Kirche in einer zueinander rückenden Welt, S. 155-170.

  12. Er zitiert zwei einschlägige kirchengeschichtliche Untersuchungen. In einer von ihnen wird aufgezeigt, dass es in den 464 Jahren vom Beginn der Alleinherrschaft Konstantins (im Jahre 323) bis zum 7. ökumenischen Konzil (im Jahre 787) zwischen den Griechen und den Lateinern fünf Schismen mit zusammen 203 Jahren gab. Die andere Untersuchung berichtet von sieben Schismen mit zusammen 217 Jahren, die es in den 506 Jahren vom Tod Kaiser Konstantins (im Jahre 337) bis zur endgültigen Annahme der Beschlüsse des 7. ökumenischen Konzils durch die Kaiserstadt Konstantinopel (im Jahre 843) gab; vgl. Yves Congar, Zerrissene Christenheit, Wien 1959, S. 111.

  13. Eiferer für die überlieferten Kirchenbräuche; der Parteiname ist abgeleitet vom griechischen Wort "zelos" = Eifer.

  14. In einem Brief des Papstes Nikolaus sind die Punkte zusammengestellt, um derentwillen sich Photios damals den Lateinern widersetzte. Seine Anklagen, mit denen er zweifellos nicht nur die Lateiner rügen, sondern auch die Zeloten, welche zu Ignatios hielten, für sich gewinnen wollte, waren: 1) das Fasten der Lateiner an Samstagen, das gegen die byzantinischen Bräuche verstieß; 2) die Lehre vom Ausgang des Heiligen Geistes vom Vater und vom Sohn; 3) die Zölibatsverpflichtung für alle Priester; 4) die Tatsache, dass die Priester der Lateiner die Firmung nicht gleich nach der Taufe spenden; 5) die irrtümliche Annahme, die Lateiner würden das Chrisam aus Wasser bereiten; 6) die eigenen Abstinenzvorschriften der Lateiner, die von jenen der Byzantiner abwichen; 7) eine Behauptung, dass die Lateiner zu Ostern nach jüdischem Brauch mit der Eucharistie auch ein Osterlamm opferten; 8) das Bartscheren der lateinischen Kleriker; 9) dass lateinische Diakone zu Bischöfen geweiht werden können, ohne eine Zeitlang als Priester amtiert zu haben. An zehnter Stelle folgte die Bestimmung, dass künftig jedes Glaubensbekenntnis, um in Konstantinopel angenommen zu werden, die neun Punkte bestätigen und eine ausdrückliche Zustimmung zum Vorrang des Konstantinopeler Patriarchenstuhls aussprechen müsse. (Vgl. M. Jugie, Theologia dogmatica christinanorum orientalium, Tomus I, Paris 1926, S. 105 f).

  15. Zu diesem Zeitpunkt hatte die chalkedonensische Partei der orientalischen Patriarchate den Ritus der Kaiserstadt Konstantinopel noch nicht angenommen. Manche Vorväter der heutigen orthodoxen Christen folgten damals noch syrischen oder koptischen Bräuchen. Die Forderung auf Rituseinheit als Ausdruck der Glaubenseinheit, die in der Gegenwart von einer Mehrheit der orthodoxen Theologen erhoben wird, war damals noch unbekannt. Die orthodox-katholische Dialogkommission beruft sich in der Bari-Erklärung, Art. 53, auf den besagten Grundsatz von 879/80.

  16. Der Erzbischof hielt in seinem Hirtenschreiben den Krimkrieg für einen "Kreuzzug gegen die Photianer"; vgl. die Ausführungen zu Chomjakovs Entgegnung auf das Hirtenschreiben bei Suttner, Offenbarung, Gnade und Kirche bei A.S.Chomjakov, Würzburg 1967, S. 137 ff.

  17. Joseph Hergenröther hat über Photios bahnbrechende Forschungen durchgeführt; vgl. ders, Photios, Patriarch von Constantinopel, 3 Bde, Regensburg 1867-69.

  18. S. Congregatio Consistorialis, Index sedium titularium Achiepiscopalium et Episcopalium, Vatikan 1933.

  19. Vgl. Suttner, Kirche und Nationen, 2 Bde., Würzburg 1997, passim.

  20. Die besondere Bedeutsamkeit dieser Tatsache ergibt sich aus einem Vergleich mit dem 2. Vat. Konzil. Ausgerechnet bei diesem Konzil, das die Öffnung der katholischen Kirche für das Gedankengut der ökumenischen Bewegung brachte, hielten die Katholiken und die Orthodoxen des 20. Jahrhunderts das Mittun von "Schismatikern" als Konzilsväter nicht mehr für möglich. Sie meinten, dass orthodoxe Bischöfe und Theologen an einem vom Papst einberufenen Konzil nur als Beobachter teilnehmen könnten, weil sie die unterschiedlichen Frömmigkeits- und Erkenntnisentwürfe beider Seiten für Glaubensunterschiede hielten. Ihnen galt als unvollziehbar, was beide Seiten in Florenz als richtig empfanden. Die Grenze zwischen Katholiken und Orthodoxen nannte man damals genauso wie heute "Schisma", doch man hielt sie für weniger grundsätzlich als im 20. Jahrhundert.

  21. Dies leiteten sie aus der Tatsache ab, dass sich auch die heiligen Väter, deren Rechtgläubigkeit wegen der ihnen gewährten Führung durch den Heiligen Geist nicht bestritten werden darf, beim Reden über den Ausgang des Heiligen Geistes unterschiedlicher Formulierungen bedienten. J. Gill, Konstanz und Basel-Florenz, Mainz 1967, S. 300f, fasst die langen Beratungen dahingehend zusammen, dass die Verständigung möglich wurde, als man "die klare Überzeugung gewonnen (habe), dass sich weder die griechische noch die lateinische Theologie im Irrtum befanden, dass vielmehr beide recht hatten, da sie im Wesentlichen das Gleiche meinten, es aber in verschiedener Form ausdrückten. Diese Überzeugung beruhte auf einem Axiom, das sie bestätigte und das keiner der in Florenz anwesenden Griechen zu leugnen gewagt hätte, so selbstverständlich war es ihnen: dass alle Heiligen als Heilige vom Heiligen Geist inspiriert sind und in Sachen des Glaubens miteinander übereinstimmen müssen. Die Vorstellung des Gegenteils hätte bedeutet, den Heiligen Geist zu sich selbst in Widerspruch setzen. Die Heiligen können ihren Glauben zwar in verschiedener Form ausdrücken, einander aber niemals widersprechen."

  22. Eine "modernere" Formulierung für die Einschränkung der römischen Primatsansprüche auf das, was "in den Akten der ökumenischen Konzilien und in den heiligen Kanones enthalten ist", fand Josef Ratzinger im Jahr 1976, als er darlegte, dass die katholische Kirche von den östlichen Christen nur das als Glaubensaussage einfordern dürfe, was auch im 1. Millennium formuliert und gelebt wurde; er publizierte diese Aussage erneut, nachdem er bereits seine gegenwärtige römische Funktion aufgenommen hatte (vgl. J. Ratzinger, Theologische Prinzipienlehre, München 1982, S. 209). Zur katholischen Lehre über den Papst vgl. auch Suttner, Der Wandel in der Ausübung des römischen Primats im Gefolge der Brester Union, in OS 54(2005).

  23. Nur rechtgläubige Kinder kann die Mutter Kirche haben, und solche hatte sie nach dem ausdrücklichen Zeugnis des Konzilsdokuments auf beiden Seiten der Mauer. Sie weinte, weil ihre rechtgläubigen Kinder getrennt waren und freut sich jetzt, dass diese Trennung ein Ende hat.

  24. Die Beweise für diese Aussage finden sich bei Suttner, Die Union in den ruthenischen Landen. Das Florentiner Geschehen von 1439 und die Brester Union (1595/96), in: OS 53(2004)3-16; ders., Das Verständnis in Polen-Litauen und in Rom zur Zeit der Brester Union vom Schisma und von einer Union, in: Orientalia Christiana Periodica 71(2005).

  25. Vgl. den Abschnitt "Nachtridentinische Auffassungen setzen sich durch" bei Suttner, Die Christenheit aus Ost und West auf der Suche nach dem sichtbaren Ausdruck für ihre Einheit, Würzburg 1999, S. 186-202.

  26. Der polnische Originaltext der Papstansprachen während der Polenreise vom 1. bis zum 9. Juni 1991 wurde in Beilagen zum Osservatore Romano veröffentlicht. Die Ansprache in der Kathedrale von Bialystok (auf den Beilagenseiten XXI-XXII) war dem Osservatore Romano vom 10./11. Juni 1991 beigegeben; eine italienische Übersetzung wurde bereits in der Nummer vom 7. Juni abgedruckt.

  27. Die Stellungnahme ist zu finden unter der Internet-Anschrift: http://www.orthodoxinfo.com/ecumenism/athos_bal.aspx

  28. Vgl. Unitatis redintegratio, 17.