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Bischof Hilarion von Wien
am 21. Februar 2005
im Deutschen Bundestag

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

In seinem Eingangsstatement hat Metropolit Kirill Ihnen den Kontext des Dokumentes "Grundlagen der sozialen Konzeption" sehr ausführlich und präzise vorgestellt. Mein Beitrag kann daher kürzer ausfallen. Ich möchte mich auf die sozio-politische Bedeutung der Russischen Orthodoxen Kirche konzentrieren, so wie sie sich in dem Dokument zur Sozialkonzeption darstellt.

Es ist bekannt, dass die Russische Orthodoxe Kirche 70 (siebzig) Jahre lang durch das atheistische Regime schwer verfolgt wurde. Erst kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ungefähr im Jahr 1988 (neunzehnhundertachtundachtzig), als die Kirche das Millennium der Taufe der Rus’ feierte, begann der Prozess der Auferstehung der Kirche. In den letzten 15 Jahren wurden Tausende von Kirchen, Hunderte von Klöstern und Dutzende von geistlichen Bildungsinstitutionen neu eröffnet. Die Zahl der Bischöfe erhöhte sich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt um mehr als das Doppelte und liegt momentan bei 150 (hundertfünfzig); die Zahl der Priester und der Pfarreien wuchs um mehr als das Vierfache und liegt nun bei 27.000 (siebenundzwanzigtausend). Beeindruckend gestaltet sich die Statistik im Hinblick auf die Zahl der Klöster: Gab es im Jahre 1988 (neunzehnhundertachtundachtzig) im Moskauer Patriarchat 18 (achtzehn) Klöster, so liegt ihre Zahl heute bei über 600 (sechshundert). Die Zahl der geistlichen Bildungsinstitutionen wuchs in demselben Zeitraum von drei auf über 100 (einhundert).

Laut statistischen Angaben betrachten sich rund 70% (siebzig Prozent) der Russen als zugehörig zur Russischen Orthodoxen Kirche. Die Mehrzahl der Gläubigen in der Ukraine, in Weißrussland und in Moldawien bekennt sich zum Moskauer Patriarchat; ebenso besteht die Mehrheit der orthodoxen Gläubigen in den Staaten des Baltikums (Estland, Lettland, Litauen) und Zentralasiens (Kasachstan, Usbekistan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan) aus Angehörigen unserer Kirche. Die Gesamtzahl der Mitglieder der Russischen Orthodoxen Kirche, die in den genannten Staaten und anderswo (vor allem in Westeuropa) leben, liegt bei über 100 (hundert) Millionen.

Dieser beispiellose quantitative Anstieg auf allen Ebenen ist von grundlegenden Änderungen in der sozio-politischen Bedeutung der Kirche begleitet. Erstmals nach mehr als 70 (siebzig) Jahren übernahm die Kirche wiederum die Rolle eines integralen Bestandteils unserer Gesellschaft, und heute gilt sie als anerkannte geistig-moralische Instanz mit hoher gesellschaftlicher Autorität. Erstmals nach vielen Jahrhunderten verfügt die Kirche nunmehr über die Freiheit, ihren Platz in der Gesellschaft selbständig und ohne Einmischung seitens der politischen Macht zu definieren und ihr Verhältnis zum Staat neu zu ordnen.

Diese veränderte Situation nötigte die Kirche zu großen Anstrengungen, um die "Ghetto-Mentalität" abzustreifen, die ihr in den langen Jahren der erzwungenen Isolation auferlegt war. Früher beschränkte sich die Kommunikation eines Geistlichen in der Regel auf Gespräche mit Mitgliedern seiner Gemeinde, die in gleichen Kategorien dachten wie er. Heute ist ein Geistlicher mit einer Masse von neugetauften Personen konfrontiert, deren Wissen über den Glauben rudimentär oder überhaupt nicht vorhanden ist. Früher durfte ein Geistlicher nur innerhalb der Mauern seines Gotteshauses predigen. Heute besteht für ihn die Möglichkeit, durch Presse, Radio oder Fernsehen die breite Öffentlichkeit zu erreichen. Lebten früher Gesellschaft und Kirche ihr je eigenes Leben, so ist die Kirche heute an der öffentlichen Diskussion über grundlegende Fragen der Gegenwart beteiligt.

Zehn Jahre intensiver intellektueller Arbeit mit dem Ziel, die gegenwärtige Problematik zu erfassen, fanden ihren Abschluss in der Verabschiedung eines Dokumentes mit dem Titel "Die Grundlagen der sozialen Konzeption der Russischen Orthodoxen Kirche" auf dem Bischofskonzil in Moskau im Jahre 2000 (zweitausend). Die Bedeutung dieses Dokumentes in seiner gesamten Tragweite ist bei weitem noch nicht angemessen erfasst und gewürdigt worden. Bei den "Grundlagen der sozialen Konzeption der Russischen Orthodoxen Kirche" handelt es sich um eine Art von Kodex, der aus der Sicht der Kirche zu Fragen des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat und zu Problemen der modernen Gesellschaft Stellung bezieht. Dieses recht umfangreiche Dokument von über 100 (einhundert) Seiten ist dazu bestimmt, sich zu einem geistigen und moralischen Leitfaden für die Gesamtheit der Russischen Kirche zu entwickeln. Moralische Ansprüche, wie sie in den "Grundlagen" definiert sind, sind nicht nur von der Geistlichkeit und den Angehörigen des Klerus, sondern auf ihre Weise auch von den Laien und "gewöhnlichen" Mitgliedern der Kirche einzuhalten.

In westlichen Medien ist oftmals die Rede davon, dass die Russische Orthodoxe Kirche bestrebt sei, die Rolle einer Staatskirche einzunehmen und so die byzantinische Tradition der Einheit von Kirche und Staat weiterzuführen. Zahlreiche Erklärungen des Patriarchen Aleksij II., der Heiligen Synode und führender Würdenträger der Russischen Kirche sowie das Dokument "Die Grundlagen der Sozialkonzeption" zeugen davon, dass dieser Verdacht unbegründet ist.

Die Kirche ist sich sehr wohl der Gefahr bewusst, durch Einbindung in staatliche Mechanismen ihre Freiheit zu verlieren. Viele Jahrhunderte lang fungierte die Orthodoxie als Staatsreligion Russlands. Für die Kirche brachte dies jedoch nicht nur ein hohes Ansehen und höhere Einnahmen, sondern auch die völlige Abhängigkeit vom Staat mit sich. In der Synodalperiode von 1700 bis 1917 befand sich die Kirche vollständig in staatlicher Gewalt, sie war nicht frei in ihrem Handeln und stellte nichts als einen Teil des staatlichen bürokratischen Apparates dar. Sie besaß nicht einmal einen eigenen Patriarchen: An ihrer Spitze stand als "Hüter des Glaubens" der Zar. In den Jahren der sowjetischen Herrschaft war die Kirche einer noch größeren Unterdrückung ausgesetzt, obwohl offiziell das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat galt. Doch in der Praxis brachte diese Trennung bloß für eine Seite Vorteile mit sich: Die Kirche erhielt vom Staat nichts, der Staat jedoch mischte sich in Angelegenheiten der Kirche ein und übte eine uneingeschränkte Kontrolle über sie aus.

Die traurigen Erfahrungen der Verfolgungen im 20. Jahrhundert gingen in folgender Weise in die "Grundlagen der sozialen Konzeption" ein: "Die Kirche wahrt die Loyalität gegenüber dem Staat, doch höher als die Forderung der Loyalität steht das Göttliche Gebot, das Werk der Errettung der Menschen unter jeglichen Bedingungen und Umständen zu vollenden". Und weiter: "Wenn die Staatsmacht die orthodoxen Gläubigen zur Abkehr von Christus und seiner Kirche sowie zu sündigen und schändlichen Taten zwingt, ist die Kirche verpflichtet, dem Staat den Gehorsam zu verweigern" (III.5).

Ein solcher Ungehorsam gegenüber der zivilen Macht kann sowohl die einzelne Person als auch die Gesamtheit der Kirche betreffen: "Ein Christ, der der Stimme seines Gewissens folgt, kann sich einem Befehl der Staatsmacht widersetzen, wenn dieser Befehl zu einer schweren Sünde nötigt. Falls es für die Gesamtheit der Kirche unmöglich ist, staatlichen Gesetzen und Verordnungen der Staatsmacht nachzukommen, kann die geistliche Führung der Kirche nach gebührender Prüfung der Frage folgende Maßnahmen ergreifen: Sie kann mit der Staatsmacht in einen direkten Dialog über das entstandene Problem treten; sie kann das Volk aufrufen, Mechanismen einer Volksherrschaft anzuwenden, damit die Gesetzgebung geändert oder die Entscheidung der Staatsmacht revidiert wird; sie kann sich an internationale Instanzen wenden und an die weltweite öffentliche Meinung appellieren oder ihre Gläubigen zum friedlichen zivilen Ungehorsam aufrufen" (III.5).

Gerade der Punkt des zivilen Ungehorsams gehört unabdingbar zum Selbstbewusstsein der Orthodoxen Kirche. Die "Grundlagen der sozialen Konzeption" sind jedoch meines Wissens weltweit das erste Dokument in der Geschichte der Orthodoxie, das eine offizielle Erklärung über den zivilen Ungehorsam abgibt. Diese Tatsache bekräftigt ein weiteres Mal den Grad an Freiheit, über den unsere Kirche heute in Russland und in anderen Staaten des "postsowjetischen Raumes" verfügt.

Das Konzilsdokument illustriert Schritt für Schritt, wie die Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft beschaffen sind. Indem das Prinzip der Abgrenzung zwischen Staat und Kirche betont wird, bekräftigt das Dokument, dass "die Kirche nicht Funktionen an sich ziehen darf, die dem Staat obliegen". Dazu zählen "gewaltsamer Widerstand gegen die Sünde, die Nutzung weltlicher Machtbefugnisse, die Übernahme von Funktionen der Staatsmacht, welche Nötigung oder Einschränkung mit sich bringen" (III.3).

Die von der Gesamtheit der Russischen Kirche im Jahre 2000 beschlossenen "Grundlagen der sozialen Konzeption" stießen in ganz Russland und auch darüber hinaus auf eine erhebliche gesellschaftliche Resonanz. Dem Beispiel der Orthodoxen Kirche folgend begannen auch Vertreter anderer traditioneller Religionen vergleichbare Dokumente auszuarbeiten. Für die orthodoxen Gläubigen Russland war es erfreulich zu erfahren, dass sie sich bei der Mehrzahl ihrer Positionen zu den aufgeworfenen gesellschaftlich-politischen Problemen der uneingeschränkten Solidarität von Muslimen, Juden und Buddhisten gewiss sein können. Das Dokument der Russischen Orthodoxen Kirche wird auch von Politikern, Diplomaten und anderen staatlich-politischen Akteuren als wichtig befunden und mehrheitlich als Plattform für einen fruchtbaren Dialog zwischen Kirche und Staat sowie zwischen Kirche und Gesellschaft angesehen.

Der Inhalt der "Grundlagen der sozialen Konzeption" wurde von mir deshalb so eingehend dargelegt, weil dieses Dokument meiner Meinung nach die sozio-politische Bedeutung der Russischen Orthodoxen Kirche am deutlichsten zum Ausdruck zu bringen vermag. Denn darin bezieht die Kirche in einer ihr entsprechenden Weise Stellung zu einer Reihe von gesellschaftlichen und politischen Fragen. Obwohl getrennt vom Staat, agiert die Kirche nicht länger getrennt von der Gesellschaft. Obwohl frei von Kontrolle seitens der staatlichen Macht, besitzt die Kirche die Möglichkeit, geistig-moralischen Einfluss auf gesellschaftlich-politische Prozesse auszuüben. So wurde die einzigartige Situation einer Partnerschaft zwischen Kirche und Staat geschaffen, die von gegenseitiger Achtung bei gleichzeitig strenger Einhaltung des Prinzips der Nicht-Einmischung in die Angelegenheiten des jeweils anderen gekennzeichnet ist.

Lässt das Gesagte den Schluss zu, dass alle grundlegenden Probleme in den Beziehungen zwischen Kirche und Staat nunmehr geregelt sind? Kann man davon sprechen, dass die Kirche sich im Besitz aller Möglichkeiten zu einem ungehinderten Dienst an der Gesellschaft befindet? Keinesfalls. Ungeklärt bleibt ein ganzer Komplex von internen und externen Problemen, die es noch zu lösen gilt. Ohne andere Staaten des "postsowjetischen Raumes" zu berücksichtigen, möchte ich hier auf einige ernste Probleme hinweisen, deren Lösung für die Kirche in der Russischen Föderation noch aussteht.

Die Orthodoxe Kirche in Russland verfügt über das Recht zu wohltätigen Aktionen. Allerdings stehen die Dimensionen der kirchlichen Wohltätigkeit in keinem Verhältnis zu den Dimensionen sozialen Elends, an dessen Linderung sich die Kirche beteiligten müsste. Dies ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Kirche bis zum heutigen Tage über keine stabile finanzielle Basis verfügt, die ihr ein wohltätiges Handeln in großem Ausmaß erlauben würde. Ich erinnere daran, dass die Kirche bis zum Jahre 1917 (neunzehnhundertsiebzehn) die größte Grundbesitzerin war und über eine Vielzahl von Immobilien verfügte. Dieses gesamte Eigentum wurde nach der Revolution verstaatlicht, wobei bis heute noch keine Form einer Restitution erfolgte. Der Staat gibt der Kirche zwar zahlreiche Gotteshäuser zurück, doch bezieht sich diese Rückerstattung nur auf ein Nutzungsrecht, und die Gebäude gehen nicht in Kirchenbesitz über. In der Praxis muss also die Kirche in der Regel für die Kosten der Instandsetzung dieser Gebäude, die die Sowjetmacht zu Ruinen verkommen ließ, aufkommen, die Gebäude selbst bleiben jedoch weiterhin staatliches Eigentum.

Im Unterschied zu all jenen Staaten, in denen Kircheneigentum nicht verstaatlicht wurde (etwa Österreich), oder zu Staaten, in denen eine Restitution des Eigentums erfolgte (zum Beispiel Litauen), verfügt die Kirche in Russland somit über keine Immobilien, die sie als Quelle von Einkünften nutzen könnte. Im Gegensatz zu Staaten, in denen es eine Kirchensteuer gibt (wie Deutschland), ist die Russische Kirche ihrerseits selbst zur Zahlung verschiedener Abgaben und Steuern verpflichtet. Die Haupteinnahmequelle der Kirche stellen wie zu sowjetischen Zeiten die freiwilligen Spenden der Gläubigen dar. Doch einzig auf der Basis dieser Spenden ist der Kirche ein wohltätiges Handeln in größerem Maße einfach nicht möglich. Durchführbar sind bloß einzelne Projekte, die dank der Mithilfe privater Sponsoren realisiert werden können.

Ein anderer Problemkreis besteht hinsichtlich der Bildungsarbeit, mit der sich die Orthodoxe Kirche in Russland zwar befasst, allerdings in einem weit kleineren Ausmaß, als eigentlich möglich und nötig wäre. Die Polemik, die kürzlich rund um den Unterricht von "Prinzipien der orthodoxen Kultur" an säkularen Schulen einsetzte, hat deutlich gezeigt, dass ein Teil der Gesellschaft noch nicht zu einem direkten Einfluss der Kirche auf Kinder bereit ist. Man verweist darauf, dass durch einen solchen Unterricht der säkulare Charakter des Staates verloren ginge und dass man interreligiösen Konflikten Tür und Tor öffne. Vertreter der traditionellen Religionen sind sich jedoch in diesem Punkt vollkommen einig: Die höchsten Würdenträger der wichtigsten nichtchristlichen Bekenntnisse in Russland haben sich für einen Unterricht der Grundlagen der Orthodoxie in all jenen Regionen ausgesprochen, in denen die Orthodoxie die Religion der Bevölkerungsmehrheit ist. Dem Wunsch der Kirche, den Kindern in den Schulen Religion zu vermitteln, stehen in erster Linie nichtreligiöse Bevölkerungsgruppen, die nach verschiedenen Erhebungen rund 20% der russischen Gesellschaft ausmachen, ablehnend gegenüber. Nach langer und hitziger Polemik gestand der Staat den Schulen schließlich das Recht zu, die "Grundlagen der orthodoxen Kultur" als Wahlfach anzubieten.

Noch vieles ließe sich zur sozio-politischen Bedeutung der Russischen Orthodoxen Kirche zum gegenwärtigen Zeitpunkt anführen. Schließen möchte ich jedoch mit einem Punkt, der mir von allergrößter Wichtigkeit erscheint: Nach sieben Jahrzehnten der Verfolgung und einem Jahrzehnt der Freiheit befinden wir uns erst am Beginn eines langen und schwierigen Weges. Auf diesem Wege gibt es für die Kirche noch vieles zu tun. Die Kirche ist um eine moralische Wiedergeburt der Gesellschaft bemüht, unabhängig davon, ob sie in ihrer Tätigkeit durch den Staat unterstützt wird oder nicht. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass bei einer positiven Einstellung des Staates gegenüber Zusammenarbeit und Partnerschaft die sozio-politische Bedeutung der Kirche und ihre Effizienz bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme weit größer sein werden.