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Patriarch Kyrill von Moskau und ganz Russland:
"Freiheit und Verantwortung im Einklang."

 

Patriarch Kyrill
von Moskau und ganz Russland

 

"Freiheit und Verantwortung im Einklang - Zeugnisse für den Aufbruch zu einer neuen Weltgemeinschaft" - Titel und Untertitel formulieren das Leitthema und das wichtigste Anliegen seiner "Heiligkeit Patriarch Kyrill von Moskau und der ganzen Rus’".
In diesem Band sind Texte des Patriarchen gesammelt, die er als Bischof und Leiter des Außenamtes des Moskauer Patriarchats verfasst und in unterschiedlichen Medien veröffentlicht hat.
Über verschiedene kirchliche und politische Zeitungen wendet er sich an seine Landsleute und wirbt um die Treue zum Glauben und um intensives Engagement in Politik und Gesellschaft, damit im Staat Rahmenbedingungen geschaffen werden, die ein Leben aus dem Glauben nach der Tradition der Kirche ermöglichen.
In Vorträgen auf theologischen Kongressen legt er die Grundzüge der orthodoxen Theologie dar und gibt Hilfe zur Orientierung in der globalisierten Welt, in der besonders die Christen des Ostens nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme ihren Platz neu finden müssen. Immer wieder ermutigt er dazu, mit ihm die Stimme der Orthodoxie und aller Christen bei dem Ringen um eine neue Weltordnung zu Gehör zu bringen, und fordert auf, an der Formulierung einer gemeinsamen Weltanschauung mitzuarbeiten, die im Dialog aller christlichen Kirchen untereinander und mit den anderen monotheistischen Religionen entwickelt werden müsse.
Das sind auch die Themen der kurzen Ansprachen, in denen diese Forderungen vor internationalen Gremien der UNO und EU eher thesenartig vorgetragen werden.
Im dritten und vierten Teil sind wichtige "grundlegende Dokumente" abgedruckt. Der Text des Bischofskonzils der Russisch-Orthodoxen Kirche: "Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über Würde, Freiheit und Rechte des Menschen" (S.220 - 239) fasst die wichtigsten Grundsätze zusammen. Als herausragendes Mitglied des Bischofskonzils wird Kyrill entscheidend an der Formulierung mitgearbeitet haben. Die Themen und Leitsätze tauchen in all seinen Vorträgen und Ansprachen auf.

Hätte man nicht wegen der Wiederholungen der wichtigsten Thesen einige Texte herauslassen oder kürzen können? Vom Inhalt her sicherlich, aber die Vielfalt der Kommunikationssituationen muss erfahrbar, erarbeitet oder hier eher "erlesen" werden: Die Sammlung enthält zahlreiche Veröffentlichungen in russischen Kirchenzeitungen und großen politischen Zeitungen, Vorträge z.B. auf einem internationalen Seminar in Budapest, bei einer internationalen theologischen Konferenz in Moskau oder beim Seminar: "Die Treue zu den christlichen Werten der Tradition und der Gewissensfreiheit" in Moskau, bei dem Weltkongress des russischen Volkes, Vorträge bei der Sitzung des Europäischen Rates der religiösen Oberhäupter in Oslo, auf der internationalen Konferenz: "Europa eine Seele geben. Sendung und Verantwortung der Kirchen" in Wien, beim Seminar: "Entwicklung der sittlichen Werte und der Menschenrechte in der multikulturellen Gesellschaft" in Straßburg, beim Seminar: "Dialog der Kulturen und Zivilisationen. Die Brücke zwischen Menschenrechten und sittlichen Werten" in Paris, ein Statement bei der Podiumsdiskussion des Menschenrechtrates der UNO in Genf und schließlich das Referat auf der ersten Plenarsitzung des Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung, Sept. 2007 in Sibiu, Rumänien. Diese Fülle verdeutlicht die Unermüdlichkeit, mit der der Bischof sich einsetzt für den Aufbau der Kirche im eigenen Land und für den interreligiösen und internationalen Dialog um die Werte, von der staatliche und internationale Ordnungen getragen werden sollen.

Wie gut, dass das große Interview der Zeitschrift "Kirche und Zeit" (17. 01. 2001) mit dem Metropoliten Kyrill den Reigen der Texte eröffnet! Die zurückhaltenden Berichte über die Geschichte seiner Familie und über die Erfahrungen bei seiner Arbeit in der russischen Kirche vermitteln einen erschütternden Eindruck von der Situation der Kirche im totalitären Regime, von den Leiden der Priester und Gläubigen. Diese Erfahrungen von 70 Jahren Diktatur sind für uns kaum nachvollziehbar. Staunend steht man vor dem Wunder des Ausharrens, Überdauerns und der Erneuerung der Kirche nach 1991. Die Berichte helfen verstehen, vor welchen Herausforderungen die Kirche 1991 stand, wie schwer es sein musste, die Beziehung zu dem neuen Staat zu definieren. Dazu kam nach der Befreiung aus der Isolation noch die Aufgabe, an der Gestaltung der internationalen Beziehungen mitzuwirken.

Sollte man auch die anderen, manchmal recht spröden Texte lesen? Ja - mit Freude, Ausdauer und manchmal mit der erforderlichen Tapferkeit. Seit Jahrhunderten ist Russland ein Teil Europas, zu dem Deutschland übrigens vor dem Kalten Krieg traditionell ein gutes Verhältnis hatte. Deshalb ist es an der Zeit, unsere Nachbarn näher kennen zu lernen, uns vorurteilsfrei mit ihrer kirchlichen Tradition auseinander zu setzen und von ihren besonderen Erfahrungen zu lernen. Drei Texte scheinen mir dazu als Einstieg besonders geeignet zu sein.

"Das liberale Wertesystem als Bedrohung der Freiheit", Januar 2004 (S. 64-69)

Der Beitrag in einer Kirchenzeitung wendet sich an die eigenen Landsleute. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung der Grenzen fühlten sich offensichtlich viele Christen bedroht von der Konfrontation mit westlichen Lebensgewohnheiten im eigenen Land. Diese Ängste erklärt Kyrill mit dem Zusammenprall zweier unvereinbarer Systeme: dem säkular-humanistischen und dem religiös-traditionsbezogenen. Die rein säkularen Ansichten des westlich geprägten Liberalismus überschwemmten viele Länder ohne Rücksicht auf ihre religiösen und sittlichen Traditionen, das müsse überall als "höchst verletzend" empfunden werden. Eindringlich warnt er die Christen davor, sich wieder ins Ghetto zurück zu ziehen, und fordert sie auf, sich um den Dialog mit den anderen großen Religionen und mit Vertretern der säkularen weltlichen Ordnung zu bemühen. Das sei der einzige Weg, um in der Ordnung sowohl eines einzelnen Staates als auch der internationalen Beziehungen den allgemein gültigen sittlichen Werte Geltung zu verschaffen. Sollte es dagegen nicht gelingen, die Stimmen der Gläubigen in die staatlichen Gesetze einfließen zu lassen, werde das gefährliche Auswirkungen haben, wie Terroranschläge in aller Welt zeigen. Denn extremistische fundamentalistische Gruppen führen keinen Religionskrieg, sondern empören sich gegen den westlich geprägten rein säkularen Liberalismus, der ihnen aufgezwungen werden soll. Der "Dialog zwischen dem säkularen und dem religiösen Denken" sei also lebensnotwendig, um eine Harmonie zu erreichen (S.69), d. h. das Gelingen eines solchen Dialogs sei die Voraussetzung für einen Frieden in Gerechtigkeit.
Eine Utopie? Vielleicht. Dennoch lohnt es sich für alle Christen, sich daran zu beteiligen. Auch wir westliche Christen sollten uns anspornen lassen, uns in Politik und Gesellschaft zu engagieren und unsere Stimme energisch zu Gehör zu bringen.

"Einheit der Kirche und Erneuerung der Menschheit. Eine gemeinsame Suche", Vortrag auf einem internationalen Seminar in Budapest, Dez. 1987 (S.50 - 63)

Die Einheit der Menschheit sei zwar eine eschatologische Verheißung, dennoch dürfe man nicht aufhören, nach ihr zu streben. Denn angesichts der "brutalen Realitäten" der Welt sei sie die einzige Chance, das Überleben der Menschheit zu sichern. Voraussetzung für gemeinsames Handeln sei die Erarbeitung einer gemeinsamen "Weltanschauung". Die eigentliche Ursachen der heutigen globalen Bedrohungen der Menschheit sei das Fehlen eines "geistigen Fortschritts", d.h. der Verlust der sittlichen Werte. Der Grundfehler sei die Trennung von Politik, Wissenschaft und Justiz vom Ethos. Nur auf der Grundlage gemeinsamer sittlicher Prinzipien seien die gegenwärtigen Krisen zu lösen. Obwohl die Christen aus ihrer Geschichte ein schweren Erbe zu tragen hätten (Eroberungskriege, Kolonialismus, totalitäre Regime etc.) müssten sie sich in diesen Prozess mit einbringen. Ein dringender Appell, dem wir uns kaum entziehen können.

"Menschenrechte und religiös-kulturelle Traditionen", Beitrag auf der Konferenz "Menschenrechte und nationale Eigenständigkeit", Moskau, April 2007 (S.137-140)

Nach der Feststellung, der öffentliche Raum könne nie wertneutral sein, folgt eine These, die für uns in Deutschland im Zusammenhang mit dem problematischen Begriff "Leitkultur" besonders wichtig ist: "Der Haltbarkeitstest einer modernen Gesellschaft ist ihre Fähigkeit, unter den Bedingungen des Zusammenwirkens vieler Wertesysteme zu leben" (S.137). Am Beispiel der Manipulationen der Menschen durch die Massenmedien wird verdeutlicht, wie sehr gläubige Menschen in Russland sich nach 1991 von dem uneingeschränkten Liberalismus der westlichen Welt bedroht fühlen. Die Ursache für all diese Freiheiten sei, dass die bloß formalen Menschenrechte absolut gesetzt würden, ohne Rücksicht auf die traditionellen Werte wie Glaube, Sittlichkeit, Heiligtümer und Vaterland. Oft werde die Meinung von Minderheiten der Mehrheit aufgezwungen. "Reale Demokratie" bedeute, auf die Stimme der Mehrheit der Bürger zu hören, vor allem im Hinblick auf die sittlichen Werte.
Trotz aller Gemeinsamkeiten in der europäischen Geschichte und in der Tradition der christlichen Kirchen bleibt für westliche Christen vieles in den Texten fremd und schwer nachvollziehbar. Schwierig ist z.B. die apodiktische Behauptung, die Orthodoxie allein sei im Besitz der wahren apostolischen Tradition, diese sei absolut bindend, ein Abweichen von der Tradition sei Häresie. Wer bestimmt, was zu dieser Tradition unbedingt dazu gehört? Die Rollenverteilung von Mann und Frau in der verfassten Kirche und die Bewertung der Homosexualität als Sünde gehören sicher nicht zu den Kernaussagen des Christentums.
Die These: "Die Diskussion darüber, was der Mensch ist, kam vor 2000 Jahren zum Abschluss … Im kirchlichen Leben gibt es in der Tat veränderliche Bräuche, denn die kulturellen, geografischen und geschichtlichen Bedingungen ändern sich, aber die Grundbegriffe über die menschliche Natur sind unwandelbar". (S. 156) Und was ist die eine "ungeteilte Sittlichkeit des Evangelium"? (S. 156) Diese Formulierungen klingen nicht gerade diskussionsbereit, wenn angesichts neuer naturwissenschaftlicher und medizinischer Erkenntnisse schwere ethische Probleme zu lösen sind, z.B. bei den Fragen nach der aktiven und passiven Sterbehilfe. Wie ist nach der modernen Psychologie und Psychiatrie noch die völlige Entscheidungsfreiheit des Menschen zu beurteilen, die als zentraler Punkt des christlichen Menschenbildes genannt wird?
Auch die Aufzählung der schweren Sünden der Zeit ist befremdlich. Homosexualität, ein Minderheitenproblem, wird hier als Krankheit bezeichnet. Wie kann eine krankhafte (wohl genetisch bedingte) Neigung schwere Sünde sein, wie sie in einer Reihe mit Abtreibung und Euthanasie bewertet wird? Oder ist hier ungenau übersetzt, d.h. nicht beachtet, dass der Begriff "Euthanasie" in Deutschland seit der Zeit des Dritten Reiches belastet ist und nicht ohne weiteres mit der Sterbehilfe gleichgesetzt wird? Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland übrigens im Prinzip gesetzlich verboten, während Patriarch Kyrill meint, man dürfe Euthanasie ähnlich wie das Glücksspiel nicht unter Strafe stellen (S. 95) In diesem Punkt ist also die liberale westliche Demokratie strenger an das Grundrecht auf Leben gebunden, als es der Patriarch für notwendig erachtet. Den Geburtenrückgang einseitig als Symptom des sittlichen Verfalls zu beurteilen, zeugt nicht gerade von einem Blick für die Lebenswirklichkeit junger Familien heute.

Sicherlich müssen in einem Diskussionsprozess Gegensätze klar formuliert werden. Aber die Projizierung aller Übel der Moderne auf ein einziges Feindbild, den westlich geprägten Liberalismus, der die Menschenrechte missbrauche, um der ganzen Welt seine Werte aufzuzwingen, überzeugt nicht. In der Sprache der Politik wird solch ein einfaches Freund-Feindbild als wesentliches Merkmal der Sprache der Ideologie bezeichnet. Diese Vereinfachung führt auch zu einer verzerrenden Darstellung der geschichtlichen Entwicklung. Die Renaissance z.B., mit der nach Kyrill das Übel der Moderne begann, war nicht gottlos, viele Humanisten und bildende Künstler waren sehr fromm und oft gute Christen. Auch die Reformation war nicht nur vom Übel, und die Philosophen und Dichter der Aufklärung waren nicht alle areligiös und befürworteten nicht ein Leben, losgelöst von sittlichen Normen, wie man leicht z.B. bei Kant oder Lessing etc. nachlesen kann. Wir verdanken dieser Zeit die Durchsetzung der Menschenrechte in der politischen Ordnung, die Verbrechen während der Französischen Revolutionen und während der Terrorregime des 20. Jahrhunderts hätten vor dem Tugendkatalog der Zeit niemals bestehen können.

Die Präambel unseres Grundgesetzes verdeutlicht, dass ein Staat, der auf der Achtung der Menschenrechte basiert, nicht frei von der Bindung an die Normen der Sittlichkeit ist. Der erste Satz beginnt: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden zu dienen… " Die Formulierung von Art. 1,1 der Grundrechte: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt" passt zu der biblischen Begründung der Würde des Menschen als einzigartigem Geschöpf Gottes. Die von Kyrill hinzugefügte zusätzliche Definition der Würde des Menschen als Ansehen, das durch ein Leben im Einklang mit den göttlichen Geboten erworben werden muss, scheint mir in dem Zusammenhang sogar gefährlich. Laut Grundgesetz hat jedenfalls jeder Mensch, auch der Kriminelle, auch der Schwerkranke und Demente, den Anspruch auf Wahrung und Schutz seiner Würde, und "körperlicher Unversehrtheit" (Art. 2,2)
Art. 1,2 sieht die Wahrung der "unveräußerlichen Menschenrechte" als " Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Also auch hier, in dem Grundgesetz, das in der Tradition des westlichen Liberalismus steht, sind die Menschenrechte an wesentliche sittliche Normen gebunden. Die genaue Lektüre der 19 Artikel der Grundrechte sei nach der Lektüre der Texte des vorliegenden Bandes empfohlen. Dann entdeckt man z.B. wieder, dass in unserem vom westlichen Liberalismus geprägten Staat Religion ein ordentliches Schulfach sein soll und Eigentum verpflichtet etc. Die Diskrepanzen zwischen den hehren Zielen der Grundrechte und den Alltagsrealitäten des politischen Lebens dürften auch frommen Christen, die das Evangelium selber lesen und Sonntagspredigten hören angesichts des alltäglichen Lebens in der Kirche auf allen Ebenen vertraut sein.
Vielleicht sind in Russland nach der Wende die unleugbaren Auswüchse des Kapitalismus und des Neoliberalismus der Wirtschaft krasser und erschreckender als bei uns, wo lange der Begriff "Soziale Marktwirtschaft" ein Hochwertwort war.

Noch eine kurze Bemerkung zu den Herausgebern. Das erste kurze Geleitwort hätte genügt. Das "Geleitwort der Herausgeber", S. III-XIV, schreckt den Leser eher ab. Es ist zu lang, die als notwendig erachteten Erläuterungen nehmen dem Leser zu viel vorweg. Trauen die Herausgeber dem Leser oder sogar den veröffentlichten Texten zu wenig zu? Zumindest sind diese interessanter und leichter zu lesen als das Vorwort und regen durchaus zum Nachdenken und zur Diskussion an.

Monika Kleineidam