OKI-Logo Die Vision von Sophia, der Göttlichen Weisheit
des heiligen Slawenapostels Kyrill
und des russischen Philosophen Vladimir Solov'ev


Bekannt ist aus der Lebensbeschreibung des heiligen Slawenapostels Konstantin - Kyrill, der auch "der Philosoph" genannt wird, dass er als Jugendlicher in einer Vision im Kreis von jungen Mädchen eine sah, die er besonders schön und liebenswert fand und die er sich als Braut erwählte. Sie offenbarte ihm ihren Namen "Sophia". Ihr weihte er sein Leben, er wurde "Liebhaber der Weisheit - Philo-Sophos"- und vielleicht ist dies auch mit einer der Gründe, warum die nun sich zum Christentum bekehrenden Slawen eine ganz besondere Beziehung haben zu Sophia - der Göttlichen Weisheit, der sie die ersten Kirchen in Kiew, Novgorod, Polotzk usw. weihten und deren Ikonen in geheimnisvoller Weise sich unterscheiden von der griechischen Vorstellung von Sophia und doch auch wieder ganz in der christlichen Tradition stehen.

Auch die russischen Denker, so besonders als erster Vladimir S. Solov'ev, stellen sich immer wieder die Frage, die einst Goethe am Anfang des Dramas "Dr. Faustus" formulierte: "Was ist es, was die Welt - im Innersten zusammenhält?" Nur fragen diese östlichen Menschen: "Wer ist es, der die Welt - im Innersten zusammenhält?" Sie fragen nicht nach einer unpersönlichen Kraft, sie fragen nicht nach einer platonischen Idee, sondern nach der "Seele des Ganzen", also eher schon, wie es Goethe am Schluss seines Faustdramas formuliert: "Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan". Und wir staunen darüber, dass dieser Protestant und Freidenker Goethe diese ewig-weibliche Gestalt als eine Frau sieht, die er am Schönsten im Bild der Gottesmutter erscheinen lässt. Wer ist diese Gestalt: die Anima mundi, die Seele der Welt? Die Antwort ist: Das All ist nicht bloß ein Haufen von leblosen Körpern bis hin zu den Molekülen und Atomen, mehr oder minder geordnet durch Gesetzmäßigkeiten, die man "noch nicht" ganz erforscht hat, deren Erforschung und Enträtselung sich aber die menschliche Hybris zutraut. Sondern diese Schöpfung hat eine Seele, ist ein lebendiges Wesen, das das All als Ganzes beseelt, wie auch jedes seiner Teile, und das das Ganze zu einem lebendigen Organismus macht, liebenswert und von Gott grenzenlos geliebt, als Braut, Jungfrau und Mutter zugleich.

Vladimir S. Solov'ev, dem dreimal in seinem Leben diese Gestalt als "Sophia - Allweisheit" erschienen ist, nennt sie seine "ewige Freundin", "die Schönheit, die uns rettet", die "herrliche Jungfrau" oder einfach mit dem altrussischen Ausdruck: Premudrost Bošija - Göttliche Weisheit oder Allweisheit, wörtlich "Über-Weisheit" - Uper-Sofia.

Und während bis zur Missionstätigkeit bei den Slawen im griechischen Bereich die Weisheit eindeutig identifiziert wurde mit Christus, dem Logos, "Gottes Kraft und Gottes Weisheit", kommt nun bei den Slawen ein neuer Aspekt dazu: die große Verehrung der "Mutter Erde" und verschiedene andere vorchristliche Ahnungen haben ihr nun weibliche Züge gegeben, so ist auch in der altrussischen Sprache die Übersetzung von Sophia nicht einfach mudrost - Weisheit, sondern Pre-mudrost: All-Weisheit, Über-Weisheit. Und ihr zu Ehren wurden die größten damaligen Sophia-Kirchen gebaut, die ihr Patrozinium jeweils an den Festtagen der Muttergottes haben (8. September oder 15. August).

Diese Allweisheit sieht Solov'ev auch angedeutet in der Welt des Hinduismus, in der jüdischen und der gnostischen Kabbala, aber auch in den Gestalten des Hellenismus, der Aphrodite und der Jungfrau Parthenos, der jungfräulichen Beschützerin von Athen, der "Großen Mutter", Magna Mater von Ephesus. Vor allem aber in der in Russland so bedeutenden und hochverehrten "Mutter Erde".

Er sieht sie zusammen mit der christlichen Tradition in der "Frau Weisheit", die in den letzten Büchern des Alten Testaments so oft genannt wird und die sich selbst darstellt in den "Büchern der Weisheit", die auch in den liturgischen Texten der Marienfeste in Ost- und Westkirche Eingang gefunden haben.

In diesen letzten Büchern des AT offenbart sich die Frau Weisheit als "Anfang - arch", der Schöpfung Gottes, als die geliebte Braut Gottes, die Baumeisterin des Alls, Gottes und der Menschen Freude, Amon, tecnitiV, skhnh , das Zelt der Gegenwart Gottes unter den Menschen, auf die all die anderen Bilder des AT treffen wie "Jungfrau Tochter Sion", "Jerusalem" und vor allem die Gestalt der Braut des Hohenliedes. Sie ist die ewige Freundin Gottes und zugleich die Mutter und der Urgrund, der "Anfang" und die Krone der Schöpfung. Wenn sie auch aus sich selbst nicht ewig ist, so nimmt sie doch als ganz reine Schöpfung teil am Wesen Gottes, weil sie in großer Liebe, in reiner uranfänglicher ungetrübter Liebe an Gottes Wesen teilnimmt, nie gefallen und nie getrennt von Gott (s. Augustinus Confessiones lib. XII).

Ihr schönstes menschliches irdisches Antlitz hat sie in der Jungfrau Maria. Doch dasselbe strahlt auch im Antlitz der Kirche auf: auch da fragen unsere russischen Denker nicht "Was ist die Kirche", sondern "Wer ist die Kirche?" Sie ist nicht nur eine irdisch-menschliche Organisation sondern ein lebendiger, gottgeliebter und gottverbundener Organismus. Oder wie es ein junger rumänischer orthodoxer Theologe ausdrückt:

"Die moderne Physik spricht von Hologrammen: jeder Punkt des Universums beinhaltet und reflektiert das Ganze und das Ganze reflektiert sich in jedem Punkt des Universums.
Die ganze Menschheit bildet ein einziges Hologramm, ja eigentlich die ganze Schöpfung. Jedes Hologramm ist geformt nach dem Bild eines anderen Hologrammes, nämlich dem Gottes, der Heiligsten Dreifaltigkeit. Die griechischen Väter kannten diese Verbindung. Sie sagten: in Wirklichkeit, gegen allen äußeren Schein, existiert nur ein einziges menschliches Wesen, in dem Tausende leben, Milliarden von Personen, so wie in der Heiligsten Dreifaltigkeit nur ein Wesen ist und doch drei Göttliche Personen.
Durch die Menschwerdung gehört Christus den beiden Hologrammen an, die er in sich vereint.
Das Schöpfungshologramm ist nach dem Bild des Trinitäts-Hologramms gebildet, als die Sapientia increata und die sapientia creata. So könnte man auch Maria sehen als das Schöpfungshologramm, an dem "von Anfang" vollzogen ist, was uns "am Ende" zuteil wird.
So ist die Trinität das perfekte Hologramm, das "Hologramm in der Ewigkeit"; das "Hologramm in der Zeit" ist auch universal, insoweit wir eine einzige Schöpfung bilden, panhuman, pankosmisch, gott-menschlich, ein mystisches "holon", das eine Hölle sein kann (im Egoismus) und ein Paradies (in der Liebe).(aus "Mystagogia Trinitatis" von Ioan Ica jr.) Im Folgenden zitiere ich vor allem Texte aus den Vorträgen, die in Regensburg zum 100. Todestag von Vladimir Solov'ev im September 2000 gehalten wurden:

Die Idee und die Gestalt der Sophia standen im Zentrum der Philosophie, der Dichtung und des Lebens von Vl. Solov'ev. Seine Sophiologie öffnete eine neue und hell leuchtende Seite in dieser neuorthodoxen Lehre, die im 20. Jahrhundert durch P. Paul Florenskij und P. Sergej Bulgakov geistvoll weitergeführt wurde.

Sophianische Intuitionen wurden in früher Jugend in der Seele von Solov'ev wachgerufen und sie drangen schrittweise in seine vielseitigen künstlerisch-philosophischen Konzeptionen ein, sie krönten seine Philosophie der Alleinheit und sie inkarnierten sich in seiner religiösen Sehnsucht nach einer idealen Universalen Kirche einer vollkommenen menschlichen Gemeinschaft.

Es erschien dem neunjährigen Jungen in der Kirche, dann dem 23jährigen jungen Mann zweimal im Britannischen Museum und in der Wüste Ägyptens eine wunderschöne Jungfrau, durchdrungen von "azurblauem, goldfarbigem", unirdischem Leuchten, mit "strahlendem Lächeln"

Im Purpurglanz des Morgenhimmels blühte
Ein Frühling auf, draus blicktest Du mich an.
Der helle Schein in Deinen Augen glühte
Wie einst das Licht am Tag, da Gott sein Werk begann.
Was ist, was war, was kommt in Ewigkeiten,
Lag vor dem Blick in reicher Vielgestalt:
Blau schimmern unter mir des Meeres Weiten,
Die weißen Bergeshöhn, der ferne Wald.
Ich sah das All, und alles war nur Eines,
War meiner ew'gen Freundin holdes Bild,
Und von dem Glanze dieses Himmelsscheines,
War alles um mich her und war mein Herz erfüllt.
(XII 84)

Von dieser "geheimnisvollen Schönheit" der Sophia war der "Lebens-Ozean" erfüllt, der junge Mann war unheilbar in sie verliebt, wie damals auch der junge Konstantin der Philosoph (der hl. Kyrill) ihr sein kurzes Leben weihte. Seit den ersten Jahren nach der Vision in Ägypten bis zum Lebensende meditierte er unaufhörlich über sie in seinen theoretischen Arbeiten und besang sie als göttliche Königin, als Geliebte in seinen Gedichten.

Das Schloss meiner Königin schimmert von Gold
Sieben Säulen tragen den Saal.
Am Diadem meiner Königin Hold,
glänzt Edelgestein ohne Zahl
(1875, XII, S.12)
Immakulata, schneeweiß, unbezwungen
Tief in Gedanken wie Mitt-Winternacht
Leuchtest du, dunkelem Chaos entsprungen
Hell doch wie Nordlicht in flammender Pracht
(1894, XII,S. 43)
Listige Teufel, bald war's euch gelungen
Heimlich zu säen die höllische Saat;
Bald war die strahlende Schönheit bezwungen,
Ihr auch war Tod und Verwesung genaht.
Aber die ewige Weiblichkeit findet
Nun bald Gestalt in unsterblichem Leib.
Himmel und Meeresgrund sind jetzt verbündet,
Lichtglanz umstrahlt schon das göttliche Weib.
Alles, was einst Aphrodite konnt' geben:
Freude im Haus und die Welt voller Glanz,
Schenkt auch die himmlische Schönheit: das Leben
Schenkt sie uns reiner und stärker und ganz.
Gegen sie wird es euch nicht mehr gelingen,
Listige Teufel, was lärmt ihr denn nur?
Trotz eures Widerstands wird sie vollbringen,
Was voller Seufzen erharrt die Natur.
1898 (XII, S. 72). u. a.

Wenn man die Sophiologie Solov'evs sieht, darf man nicht vergessen, dass hinter aller komplizierten Kosmogonie und Metaphysik des russischen Theoretikers der Alleinheit, hinter all seinen philosophisch-theologischen Prinzipien immer diese schwer zu zeichnende ganz schöne bezaubernde weibliche Gestalt stand; die seine Seele in seiner Jugend verwundete; und er war überzeugt, dass gerade in ihr die Hauptqualität der Sophia durchscheint, die ihren inneren göttlichen substantiellen Zustand aufzeigt. Gerade in der "schöpferischen Sphäre des Wortes und des Heiligen Geistes erscheint die Göttliche Substanz, die wesentliche Allweisheit, sie nimmt klare Gestalt an und erscheint in ihrer tiefsten Qualität als strahlendes und himmlisches Wesen" (XI 300). Und dieses Wesen stellt bei Solov'ev "die wahre Ursache und das Ziel der Schöpfung" dar, beinhaltet in sich "die ganze vereinigende Kraft des geteilten und zerspaltenen Seins der Welt" und "in ihrem Grund ist die Einheit des Ganzen und als Ziel hat sie die Einheit des Gegensätzlichen"(XI 298; 306).

Die Erbauer der Kirchen der Sophia fühlten diese geheimnisvolle und schwer erfassbare Gestalt in der ganzen Fülle und Kostbarkeit, aber sie konnten sie nicht vollkommen klar erkennen. Trotzdem, so ist Solov'ev überzeugt, realisierten sie ihre tiefe geistliche Erfahrung in der Kunst, teilweise in den Ikonen der Sophia, der Göttlichen Allweisheit. Zu dieser Überzeugung kommt der russische Philosoph, wenn er über die Ikone des Sophia-Typos von Novgorod aus der Sophia-Kathedrale in Novgorod nachdenkt. Er ist überzeugt, dass diese Ikone kein griechisches Vorbild (Urtyp) hat, sondern ein Produkt "unseres eigenen religiösen Schaffens ist" "Dieses Große königliche und weibliche Wesen", das nicht Gott ist und auch nicht der ewige Sohn Gottes oder die Gottesmutter oder ein Engel "wer ist es wenn nicht die wahrste, reinste und vollste Menschheit, die höchste und allumfassendste Form und die lebendige Seele der Natur und des Alls, ewig vereinigt mit der Gottheit und im zeitlichen Prozess sich mit ihr vereinigend und alles mit ihr vereinigend, was ist" (IX 188)

Bis zur Erschaffung des Menschen, bis zum Auftauchen der Menschheit als Gipfel der Schöpfung, hatte die Sophia keine reale Möglichkeit einer vollen Selbstverwirklichung. Gerade im Menschen, in seinem sakralen Wesen, findet sie die Fülle ihrer Inkarnation. Die Sophia erscheint nun als das Dreifaltige und zugleich auch das Eine gott-menschliche Wesen, in dem sich die mystische Einheit der Menschen (= der Menschheit) mit Gott verwirklicht. Als zentrale und persönliche "Enthüllung" der Sophia in der Welt erscheint der inkarnierte Logos, Gott Sohn Jesus Christus, mit weiblicher "Ergänzung" die Heilige Jungfrau, die Gottesmutter, und "in universaler Ausweitung - die Kirche" (XI 308). In unmittelbarer Einheit mit Gott befindet sich nur der Gottmensch Jesus, aber durch ihn, die Heilige Jungfrau (durch das Geheimnis Seiner Geburt) und die Kirche (die als Sein Haus und Sein Leib erscheint). Und alle drei sind eines - die Menschheit, wenn man betrachtet, dass Gott in seinem ewigen Gedanken die Schöpfung als Ganzes gut hieß. Gerade deswegen frohlockte die biblische Allweisheit, als sie ihre fortschreitende Realisierung sah.

"Die Menschheit, vereint mit Gott in der Heiligen Jungfrau, in Christus, in der Kirche, ist die Realisierung der wesentlichen Allweisheit oder der absoluten Substanz Gottes, ihre bewusste Form, ihre Inkarnation (XI 309). Eine Bestätigung dieser Folgerungen findet Solov'ev auch in der Erfahrung des orthodoxen Gottesdienstes und in der altrussischen religiösen Kunst. Wenn auch die Kirchenväter fast einmütig die Allweisheit mit Gott dem Sohn identifizierten, so beziehen doch viele der gottesdienstlichen Texte der "mystischen Bücher" die Allweisheit sowohl auf die Gottesmutter wie auch auf die Kirche, und die kirchliche Kunst, im Zusammenhang der Sophia mit der Gottesmutter sowohl als auch mit Christus, unterscheidet trotzdem diese voneinander, indem sie eine Gestalt eines eigenen Göttlichen Wesens darstellt, worin das russische Volk, nach der Überzeugung von Solov'ev "unter dem Namen der Heiligen Sophia die gemeinschaftliche (soziale) Inkarnation der Gottheit in der Universalen Kirche erkannte und liebte". Dieser universale Aspekt der ekklesiologischen Sophia sah Solov'ev als Offenbarung der russischen orthodoxen Kirche und der "wahrhaften nationalen" Idee. Ihrer Entfaltung widmete er seine Konzeption der Universalen Kirche.

Die Sophiologie von Vladimir Solov'ev ging dauerhaft in das philosophisch-theologische Werk einer Reihe russischer Philosophen ein, aber besondere Aufmerksamkeit widmeten ihr P. Pavel Florenskij und P. Sergij Bulgakov.

P. A. Florenskij teilte einige einzelne Ideen und Darlegungen von Vl. Solov'ev nicht, da er sie im Widerspruch zur orthodoxen Tradition sah, doch trotzdem lehnt er sich vielfach in seinem Verständnis der Sophia an ihre vielseitige Gestalt, wie sie von Solov'ev mit talentiertem Pinsel gezeichnet worden war. Der Sophia widmete er ein eigenes Kapitel (Zehnter Brief) seines fundamentalen Werkes "Säule und Grundfeste der Wahrheit". Quelle seiner Konzeption war die ganze vorausgehende europäisch-mediterrane Kultur. Er bezieht sich häufig auf die Hl. Schrift, auf die Kirchenväter, auf östliche und westliche Theologen, Mystiker, Gelehrte und besonders auf die Erfahrung von russischer kirchlicher Kunst und Gottesdienst.

Sophia ist nach dem Verständnis von Florenskij ein unfassbarer Zustand des Übergangs von Gott zur Schöpfung; sie ist zwar nicht Gott, nicht das göttliche Licht, aber auch nicht die materielle Schöpfung, "nicht die grobe Trägheit der Materie; sie ist ein gewisser "metaphysischer Staub" balancierend zwischen "den idealen Grenzen zwischen der göttlichen Energie und der geschöpflichen Passivität; sie ist so Gott, wie sie nicht Gott ist, so Geschöpf, wie sie nicht Geschöpf ist, über sie kann man nicht sagen "Ja" und auch nicht "Nein". Sophia ist das erste und feinste (zarteste) Kunstwerk des göttlichen Tuns. Für die geschaffene Welt ist sie der Mittelpunkt der schöpferischen Energie, die teilweise auch die Kunst, d.h. die ästhetische Tätigkeit der Menschen befruchtet.

Die Sophia, dachte P. Pavel, hat Teil an der Dreifaltigen Gottheit, sie nimmt teil an der göttlichen Liebe und ist vor allem eng verbunden mit der zweiten Hypostase, mit dem Göttlichen Wort. Ohne Verbindung mit ihm "hat sie kein Sein und fällt auseinander, Bruchstücke der Ideen der Schöpfung; in Ihm aber erhält sie schöpferische Kraft". (329). Für das orthodoxe Bewusstsein hat das Sein der Sophia in der geschaffenen Welt eine Fülle von Aspekten. Im Menschen leuchtet sie auf als das Bild Gottes, als Gottes uranfängliche Schönheit.

Im Gottmenschen Christus ist sie Anfang und Zentrum der Erlösung der Schöpfung - Sein Leib, d.h. der geschaffene Anfang, in dem sich das Göttliche Wort inkarnierte. Sophia versteht man aber auch als Kirche in ihrem irdischen und himmlischen Aspekt. In letzterem Fall ist sie die Zusammenfassung aller Personen, die angefangen haben, das verlorene Gottesebenbild wieder aufzurichten. Und so geschieht ein Prozess der Reinigung der Glieder der Kirche, gewirkt durch den Heiligen Geist: "diese Sophia ist die Jungfräulichkeit. Als ihre Trägerin im höchsten ausgezeichnetem Sinn aber erscheint die Jungfrau Maria, die Mutter Gottes", und sie wird bei Florenskij in die Nähe mit der Sophia gebracht als deren "Trägerin", als "Erscheinung der Sophia".

Die Vielheit der Aspekte der Sophia in der geschaffenen Welt hat eine tiefe Wurzel - die unverwelkliche ur-anfängliche Schönheit der Schöpfung, die geistig-geistliche Schönheit. Sophia ist der wahre Schmuck des menschlichen Wesens, die aus allen seinen Poren hervortritt, auf ihrem Gesicht glänzt, sich in ihrem Lächeln zeigt, in ihrem Herzen mit unaussprechlicher Freude jubelt, sich in all ihren Gesten ausdrückt, den Menschen wie mit einer wohl duftenden Wolke und einem lichtstrahlendem Nimbus umgibt, ihn "höher als alle weltliche Einheit erhebt, sodass der Mensch, obwohl er in der Welt bleibt, nicht "von der Welt" - überweltlich wird ... Sophia ist die Schönheit". Sophia ist der geistig-geistliche "Anfang" in der geschaffenen Welt und im Menschen, der diese sehr schön macht, sie ist der Wesensgrund des Schönen. "Nur die Sophia" - schrieb Florenskij - "nur sie ist die wesentliche Schönheit und in aller Schöpfung; aber alles Übrige ist nur Flitter (Goldfaden) und Schmuck ihres Kleides ... (351):

Auf Erden tritt als erste und hauptsächliche Trägerin der Sophia im russischen orthodoxen Bewusstsein die Gottesmutter auf - die lebendige Mittlerin zwischen Himmel und Erde, dem Oben und Unten. "Wie der Geist die Schönheit des Absoluten ist, so ist die Gottesgebärerin die Schönheit des Geschaffenen, die Herrlichkeit für die Welt, und durch sie erhält die ganze Schöpfung Schönheit" (355). Die orthodoxe Welt verstand die Gottesmutter als Symbol des geistig-geistlichen "Anfangs" auf Erden, als reale Erscheinung der Sophia, als Trösterin und Fürsprecherin bei Gott für die sündige Menschheit, als das Jerusalem von Oben, das sich auf die Erde herabsenkt, als "Zentrum des geschaffenen Lebens, als den Berührungspunkt von Erde und Himmel", als eine mit kosmischer Herrschaft Betraute. "In der Gottesmutter vereinigt sich die sophianische Kraft, d.h. die der Engel, und die menschliche Demut", sie steht an der Grenzlinie, die den Schöpfer vom Geschöpf trennt und darum ist sie völlig unerreichbar (359; 358).

Das Haupterkennungszeichen ihrer Sophianität - ihre unaussprechliche Schönheit, die alle geschaffene Welt erhellt, die das Herz der Menschen mit unbeschreiblicher Freude erfüllt. Das menschliche Bemühen, ihre Schönheit zu erfassen und festzuhalten, kann man in der Ikonenkunst sehen, "die Ikonographie gibt die Vielfalt der verschiedenen Aspekte der sophianischen Schönheit der Jungfrau Maria wieder" (369).

Wenn bei Solov'ev hinter seiner komplizierten philosophisch-theologischen Konzeption von der Sophia die poetische Gestalt der wunderschönen Jungfrau, der Ewigen Weiblichkeit stand, so tritt in der Sophiologie von P. P. Florenskij der marianisch-ästhetische Aspekt der Sophia an die erste Stelle - die absolute Schönheit, die sich inkarniert hat in der Mutter Gottes. Hier einer der hauptsächlichsten und wesentlichen Aussagen dieser Sophiologie:

Sergij Nikolaevic Bulgakov war einer von vielen, wenn nicht der einzige unter den orthodoxen Denkern, der die Philosophie von Vl. Solov'ev in seinem sophianischen Ursprung schätzte, ja gerade in der Sophiologie seine Originalität, Kraft und Bedeutung aufzeigte. Darum sah er in seinen formal-logischen Texten und Konstruktionen zu Recht nur die Spitze des Eisberges des geistig-geistlichen Erbes des gewaltigsten russischen Philosophen. Als Hauptsache aber sah er bei Solov'ev seine reichliche mystische Erfahrung, die ihren größten, adäquaten Ausdruck nicht in seiner Philosophie fand, sondern in seinem künstlerischen Schaffen - in seiner Dichtung, zum großen Teil der Sophia geweiht, aufgezeigt im Licht der persönlichen mystischen Beziehung des Dichters mit ihr, der Liebe zu ihr. Nicht zufällig, betont Bulgakov, zeigten sich die russischen Dichter-Symbolisten Blok, Belij, Vjaceslav Ivanov besonders feinfühlig für die geistig-geistliche Erfahrung Solov'evs. Die persönliche Mystik des Ewig-Weiblichen, die sophianische Beschwingtheit Solov'evs offenbarten sich am vollständigsten in seiner Poesie; sie wurde ein eigentümliches (originelles) intimes Tagebuch, das im Laufe seines ganzen Lebens die tiefe Erfahrung viel vollkommener widerspiegelte als die philosophischen Texte.

Unter dem Einfluss von Vl. Solov'ev und besonders von P. A. Florenskij hat P. Sergij Bulgakov die Lehre von der Sophia ins Zentrum seiner Weltanschauung gestellt. Mehr noch, er bezeichnete die Sophiologie als die besondere, synthetische, theologische Wissenschaft, die sich weit über die Philosophie erhebt und praktisch als die neue moderne Etappe der orthodoxen Theologie gelten kann. Im Buch "Die Göttliche Allweisheit" schreibt er, seine Lehre zusammenfassend "Die Sophiologie ist eine Weltschau, eine christliche Schau der Welt, eine theologische Konzeption ... eine besondere Interpretation der ganzen christlichen Lehre, beginnend vom Verständnis der Hl. Dreifaltigkeit und Inkarnation und endend bei den Fragen des heutigen praktischen Christentums ... als zentrales Thema der Sophiologie erscheint die Beziehung zwischen Gott und der Welt ... Die Sophiologie ist der Ruf zum geistig-geistlichen Leben und zur schöpferischen Aktivität, ausgerichtet auf die Rettung seiner selbst und der Welt".

Viele orthodoxe Hierarchen und die russische Kirche selbst verhielten sich abweisend gegenüber der Sophiologie Bulgakovs, sie sahen in ihr häretische Elemente. Trotzdem sah P. Sergij seine Lehre (wie auch die entsprechenden Ideen von Solov'ev und Florenskij) als einen neuen Schritt in der Entwicklung der Theologie. In seiner Sophiologie lehnt er sich, wie auch P. Pavel Florenskij an die ganze vorhergehende philosophisch-theologische Erfahrung auf diesem Gebiet an, beginnend vom AT, Plato, Philo, den Kirchenvätern über die westlichen Sophiologen Jakob Böhme, John Pordage bis zu Solov'ev und Florenskij.

Die Göttliche Allweisheit stellt somit in der Sophiologie Bulgakovs ein tiefes, vielfach als aktives, als antinomisch beschriebenes Wesen dar, das sich einer einseitigen formal-logischen Betrachtung und einer diskursiven verbalen Beschreibung entzieht. In ganzer Fülle eröffnet sie sich neu dem religiösen Bewusstsein in einigen Akten mystischer Erfahrung. Gleichzeitig erscheint sie als abstrakte göttliche ousia, d.h. Wesen und als Bild Gottes innerhalb der Gottheit; und als das Ewig-Weibliche in der Gottheit, als ihr passiver (empfangender) aber schöpferischer (in Richtung Welt) "Anfang", und als die Zusammenfassung aller Schöpfungsideen Gottes, d.h. der Ideen der Schöpfung und auch als Inspiratorin und Führerin aller schöpferischen Tätigkeit der Menschen, darunter auch der Künstler und als Vermittlerin aller göttlichen Energien, und als Gottmenschentum, verstanden als "Einheit Gottes mit der ganzen Schöpfung" und als reale Erscheinung der Kirche Christi. Sie stellt endlich in der konkreten und der Seele des russischen Volkes sehr nahen Gestalt die Gottesmutter dar, die Jungfrau und Mutter, die Schutzherrin und Fürsprecherin für das Menschengeschlecht bei ihrem Sohn.

Sie öffnet aber zugleich die Tür zu den anderen großen Religionen, in denen diese geheimnisvolle Gestalt in anderen Bildern und Namen ebenfalls erscheint, wie dies Solov'ev, Florenskij , Bulgakov und andere erahnten und damit schon den heute so notwendigen und wichtigen interreligiösen Dialog vorbereiteten.

Dr. Albert Rauch
Ostkirchliches Institut