OKI-Logo Einheit in der Vielfalt


5. Gespräch zwischen Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz und der Russischen Orthodoxen Kirche in Minsk
13. bis 17. Mai 1998

Bericht von der Begegnung

Wenn ich auf die nun über dreißig Jahre Begegnung mit der Orthodoxen Kirche zurückschaue, dann habe ich vieles gelernt. Es gelingt mir nicht, in ein paar Worten meinen Dank auszusprechen für das, was ich in diesen Jahren Schönes erleben durfte und für mein Leben und Denken dazugelernt habe. Aber ich möchte nur einiges Wenige andeuten im Blick auf das "Geheimnis der Kirche".
Einer meiner vielen orthodoxen Lehrer war S. S. Patriarch Justinian. Ich durfte oft mit ihm zusammensein, ich durfte auch seine Reise in die Bundesrepublik (7.-20.10.1970) vorbereiten und begleiten. Patriarch Justinian sprach gerne über die Einheit der Kirche. Er sah die Kirche als das Geheimnis der "Einheit in der Vielfalt". Bei den Tischreden wies er manchmal lächelnd auf einen schönen Blumenstrauß hin und sagte: das ist ein Bild für die Kirche: Schönheit des Ganzen und Schönheit jeder der einzelnen verschiedenen Blumen: Einheit in der Vielfalt.
Ähnliche Gedanken sagte mir Metropolit Nikodim von Leningrad. Ähnliches und viel Tiefes fand ich in den Schriften von Vl. Solovev, P. Florenskij und S. Bulgakov.
Als im Jahre 1985 Henri de Lubac nach den Chancen einer "Renaissance" der katholischen Theologie befragt wurde, verweist er auf die "zweifelsohne sehr tiefe Synthese von Sergij Bulgakov". (Henry de Lubac. Zwanzig Jahre danach. Ein Gespräch über Buchstabe und Geist des II. Vatikanischen Konzils. München – Zürich 1985, S. 90)
Yves Congar, der wesentlich zur Erneuerung des katholischen Kirchenverständnisses im II. Vatikanischen Konzil beigetragen hat, vermerkt in seinen theologischen Schriften mehrfach, dass er wesentliche Einsichten der orthodoxen Ekklesiologie verdankt. Insbesondere stand er mit den russischen Emigranten-Theologen in Paris in Verbindung, darunter Sergij Bulgakov. (vgl. z. B. Yves Congar, Jalons pour une théologie du laicat, Paris 1969).
Einmal fragte ich in Thessaloniki zwei bedeutende Theologieprofessoren (Dr. Karavidopoulos und Dr. Galanis): Welche Antwort können Sie mir geben, nicht wenn ich frage, "was ist die Kirche?", sondern wenn ich frage "wer ist die Kirche?". Da sagten beide: "pasa h ktisiV, die ganze Schöpfung".
Wie sollen wir das verstehen? Hier ein Versuch, von der "Kenosis" Gottes, als dem innersten Geheimnis der innertrinitarischen und auch der außertrinitarischen Liebesbeziehungen Gottes her einen Zugang zu finden.

1. Einheit und Vielfalt in der Trinität als Voraussetzung und Urgrund aller Beziehungen

Einheit in der Vielfalt ist das Geheimnis Gottes selbst. Die Theologen lehren uns, dass es keine Verschiedenheit gibt im Himmel und auf Erden, die größer sei als die von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Zugleich aber lehrt die Kirche, dass es keine größere Einheit gibt als die der Drei Göttlichen Personen. Was ist der Grund, was ist diese einigende Kraft, die in Gott Einheit des Wesens und Verschiedenheit der Personen bewirkt?
Es ist die Liebe. Liebe setzt die Verschiedenheit der Personen voraus, aber Liebe schafft auch die tiefste Einheit der Personen. In Gott ist die größte Liebe, ja Gott ist die Liebe (vgl. 1 Joh 4,8); darum ist die Gleichzeitigkeit der scheinbaren Gegensätze von Einheit und Verschiedenheit in Gott dem Einen und dem Dreifaltigen das tiefste Geheimnis Gottes. So ist diese Liebe der Drei Personen zueinander eine Beziehung, - oder wie die Theologen sagen - eine Perichorese, eine innige Beziehung der Liebe und Wechselwirkung der Drei Personen.
Doch das ist noch nicht alles. Diese Göttliche Liebe ist keine "romantische Liebe". Echte Liebe heißt Hingabe, ein Sich-Verlieren im anderen; dies ist in Gott total, da in Gott alles in der größten Vollkommenheit und Totalität ist.
Manche Theologen, vor allem auch orthodoxe, nennen diese Liebe und Hingabe der Göttlichen Personen zueinander eine totale Kenosis, ein Sich-Verlieren des Vaters im Sohn, des Sohnes im Vater, des Heiligen Geistes in beiden und beider in ihm, eine totale gegenseitige Hingabe und Zuneigung der Göttlichen Personen, die sie in einem Wesen subsistieren läßt. So ist diese innertrinitarische Hingabe die Ur-Kenosis, Ursprung und Vorbild aller liebenden Hingabe Gottes, auch in der außertrinitarischen, das heißt in seiner Schöpfung, in ihrer Erlösung und ihrer Heiligung.
In dem für seine Christologie maßgeblichen Abschnitt "Mysterium paschale" entfaltet Urs von Balthasar den Gedanken, dass die "Kenosis" nicht auf Menschwerdung, Leiden und Tod Jesu Christi reduziert werden darf, sondern den Grundvollzug des Dreifaltigen Göttlichen Lebens ausmacht. Dabei bezieht er sich wesentlich auf Sergij Bulgakov (Mysterium salutis, Band III/2: Das Christusereignis, Einsiedeln 1969, S. 133)

2. Einheit und Vielfalt in der Schöpfung als Frucht der Kenosis Gottes im Logos

Die Schöpfung ist in ihrer Vielfalt und Einheit oft Thema der Heiligen Schrift, besonders der Psalmen. Psalm 104 (103) wird als Lobpreis auf den Schöpfer und die Schöpfung am Anfang jeder orthodoxen Vesper gebetet: "Wie wunderbar sind deine Werke, o Herr, alles hast du in Weisheit erschaffen".
Aber auch im Akt der Schöpfung zeigt sich diese totale Kenosis der Liebe Gottes. Die Schöpfung wird traditionell als creatio ex nihilo gesehen. Man kann sie aber auch als Frucht der hingebenden Liebe sehen, die ein Sich-im-Andern-Verlieren und ein Sich-einander-Hingeben der Drei Göttlichen Personen als Grund hat. Das Göttliche Wort verliert sich ins Nichts, damit aus dem Nichts etwas werde in der Vielfalt der Kreaturen.
Wir Menschen sehen oft nur die eine Seite - die geschöpfliche Sicht: wie schön und vielfältig die Schöpfung geworden ist. Wir sehen aber oft zu wenig, wie dies nur möglich ist durch die Ausgießung des Göttlichen Seins, das sich verströmt, hingibt, erniedrigt ins Nichts, damit aus dem Nichts etwas werde in Vielfalt und Einheit zugleich: Gottes Liebe verströmt sich, gibt sich in Nichts und dadurch entsteht die Vielfalt der Formen und Kreaturen.
So weisen manche östliche Theologen darauf hin, dass diese wunderbare Schöpfung, die wir jeden Tag in uns und um uns in aller Vielfalt und Verschiedenheit erfahren, nicht nur als Frucht der Allmacht Gottes oder gar als eine Emanation des Göttlichen Seins gesehen werden kann (Gnostiker), sondern auch als Frucht der Erniedrigung und Entäußerung des Göttlichen Wortes hinein in das Nichts. Damit entsteht die Schöpfung, damit wird sie am Leben erhalten.
Aber dies ist nicht nur ein einmaliger Akt: jeden Augenblick, solange die Geschöpfe bestehen, ergießt sich das Göttliche Sein in die Vielfalt und Verschiedenheit und zugleich Gebrechlichkeit der Kreaturen. Die ganze Schöpfung und jedes ihrer Teile ist dauernd am Werden und Vergehen. So können wir die Schöpfung von unserer geschöpflichen Seite her als dauernden Prozess der Liebe und Hingabe Gottes sehen, als Teilnahme am innersten Geheimnis der sich verströmenden, nie aufhörenden Liebe Gottes, die ihren Urgrund und Ursprung in der Ur-Kenosis der innertrinitarischen gegenseitigen Hingabe der Göttlichen Personen hat, von der wir oben sprachen.

3. Einheit und Vielfalt in der Erlösung als Frucht der Kenosis des Gottmenschen

Es ist klar, dass die Erlösung ein Akt der großen Menschenliebe Gottes ist: "Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen aus Maria der Jungfrau und ist Mensch geworden", sprechen wir gemeinsam im Glaubensbekenntnis der Kirche.
Denn die Einheit und Harmonie in Vielfalt und Verschiedenheit in der Schöpfung ist nur die eine Seite, die lichte Seite. Sie kann aber auch zur Offenbarung der Sünde werden. Statt Einheit bewirkt die Sünde (Diabolos, der Verwirrer) Einförmigkeit und Vermassung und statt Vielfalt bewirkt sie Zwietracht und Streit.
Christus führt uns wieder zur verlorenen Einheit in der Vielfalt zusammen: Einheit mit Gott und untereinander und mit der ganzen Schöpfung. Aber das bedeutet für den "der keine Sünde kannte", dass er unseretwegen "zur Sünde wurde", dass er unseretwegen in die Gestalt des vergänglichen "Fleisches der Sünde" kam, um uns aus der Verlorenheit und Gegensätzlichkeit und aus der Sklaverei des Bösen (=Dia-boloV, der Verwirrer, der Spaltende, nicht Sum-boloV, der Vereinigende) zur wahren Einheit zusammenzuführen.
So zeigt sich diese totale Kenosis der Liebe Gottes in Christus für uns sündigende Menschen noch deutlicher und ergreifender im Geheimnis der Erlösung. Von der Menschwerdung Gottes "im Fleische" bis zu Kreuz, Tod und Abstieg in die Unterwelt ist alles zusammengefasst in dem Wort des heiligen Paulus an die Philipper: "Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich eauton ekenwsen und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen! Er erniedrigte sich selbst etapeinwsen eauton und war gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz" (Phil 2,5-8).
Vertraut war den Griechen der Hades und seine dunkle Macht, die aber immer wieder in Frage gestellt wurde: vgl. die Erzählung vom Abstieg (und Aufstieg) des Herakles, des Gott-Menschen kurz vor seiner endgültigen Aufnahme in den Himmel und endgültigen divinisatio.
Die Ostkirche verwendet auch heute noch das Bild vom Hades, was wir Inferno, inferi, Hölle, Reich des Todes nennen. So etwa in der Osternacht: "Heute ruft der Hades stöhnend: vernichtet ist meine Macht; ich nahm den Toten (d. h. Christus) auf wie einen der Gestorbenen; diesen aber vermag ich nicht gefangen zu halten, vielmehr verliere ich mit ihm die, über welche ich herrschte. Ich hatte die Toten von der Urzeit her, doch siehe, dieser erweckt alle". Die Auferstehung wird meist dargestellt durch die Ikone des descensus ad inferos, des Abstiegs in das Reich des Todes.
Und wenn der Bischof oder Priester am Schluss der Osternacht die Predigt des Johannes Chrysostomus liest, dann wiederholen die Gläubigen in Griechenland, den Bischof unterbrechend, triumphierend immer wieder die Worte: 'er [der Hades] war voll Bitterkeit! epikranJh'.
So sagt Chrysostomus u. a. "Christus ließ dem Hades Bitterkeit erfahren, ihn, der gekostet hatte von Seinem Fleisch. Dieses vorausnehmend rief Jesaja aus: Der Hades war voll Bitterkeit, als er Dir unten begegnete. Er war voll Bitterkeit, denn er war abgeschafft; er [der Hades] war voll Bitterkeit, denn er war verhöhnt; er war voll Bitterkeit, denn er war hinweggerafft; er war voll Bitterkeit, denn er war gestürzt; er war voll Bitterkeit, denn er war gefesselt. Er [Hades] nahm den Leib und geriet auf Gott, er nahm die Erde und traf auf den Himmel! Er nahm, was er sah, und fiel durch das, was er nicht sah! Wo ist, o Tod, dein Stachel, wo, Hades, dein Sieg! Auferstanden ist Christus und du bist gestürzt; auferstanden ist Christus und gefallen sind die Dämonen. Auferstanden ist Christus und es freuen sich die Engel. Auferstanden ist Christus und das Leben herrscht. Auferstanden ist Christus und kein Toter ist mehr im Grabe. Denn Christus ist von den Toten auferstanden und ist die Erstlingsgabe der Entschlafenen geworden".
Die Kenosis am Kreuz wird erst durch die Kenosis des Abstiegs in das "Reich des Todes" und zwar durch Seinen Abstieg in den "untersten Hades" zur völligen Gottverlassenheit Gottes.
Dieses "heute" ist natürlich das "je immer" der gott-menschlichen Kenosis, hinein "bis in den letzten Winkel der Unterwelt", von wo aus Er den Hades seine Macht nimmt und die Verstorbenen heraufführt ans Licht. Diese Gedanken stehen auch hinter den Worten des im Westen häufig verwendeten Apostolischen Glaubensbekenntnisses, in dem wir sprechen: "hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten" (Synode von Aquileja).
Für uns Geschaffene wird diese Wiederherstellung der Einheit zwischen dem Schöpfer und seiner geliebten Schöpfung zur "Heiligen Hochzeit", Hierogamie, zur Teilnahme am Leben der Heiligsten Dreieinigkeit; für ihn [Christus] aber wird sie zur "Bluthochzeit", wie die Kirchenväter betonen: totale Hingabe an seine Braut, die Kirche, das heißt die aus Sünde und Schuld erneuerte Schöpfung, damit er sie reinige und heilige und ohne Makel und Runzel für Gott bereite zum "Himmlischen Jerusalem", zur "Braut Gottes".
So entsteht die Kirche im Geheimnis von Christi Tod, Auferstehung und Geistsendung.
Es gibt nur eine Kirche, das bekennen wir im Glaubensbekenntnis.
Aber wissen wir so genau, wer und was in der Kirche ist, und wer und was außerhalb der Kirche?
Kennen wir genau die Grenzen der Kirche? Haben wir eine genaue Gründungsurkunde von Christus erhalten? Sind nicht gerade die so menschlichen "Ordnungen" Grund zur Spaltung?
Wieder können wir das gleiche Prinzip von Einheit in Vielfalt sehen:
Wenn wir die Kirche nur weltlich sehen, dann besteht die Einheit und Vielfalt in Ordnung und genau erlaubter Verschiedenheit, wie wir sie sehen und wie wir sie gerne haben möchten. So bauen wir unsere Kirchengebäude, so organisieren wir unsere hierarchische, liturgische und kanonische Ordnung in der Kirche und in den einzelnen Kirchentraditionen. Wir wissen dann genau, was uns verbindet und eint und was uns von den anderen Konfessionen, Religionen und von der "bösen Welt unterscheidet und trennt".
Wenn wir aber mit den Augen der Heiligen Schrift, das heißt mit den Augen Gottes auf seine Kirche schauen, dann sagt uns Paulus im Epheserbrief: " ... Christus [hat] die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben eauton paredwken uper authV, um sie im Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen. So will er die Kirche herrlich erscheinen lassen, ohne Flecken, Falten oder andere Fehler; heilig soll sie sein und makellos" (Eph 5,25-27).
Wieder ist es die Hingabe, ja das Sich-Ausliefern Christi, was die Kirche aufbaut und herrlich und schön macht. Es ist aber nicht Irgendeiner, der sich hingibt, sondern der ewige, unendlich liebende Gott in der Gestalt des sich erniedrigenden Gottmenschen Jesus Christus. Seine Liebe ist unbegrenzt: Wie sollen wir ihm und seiner Kirche genaue Grenzen setzen, wie sollen wir seine Hingabe genau begrenzen wollen, möglichst noch auf uns allein einengen wollen!
Bei der Schilderung des Erlöserleidens am Kreuz ist von einer dreifachen Hingabe die Rede: der Vater gibt seinen Sohn hin paredwken, so dass dieser ruft: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!" und der Sohn gibt auch noch seinen Geist hin: paredwken to Pneuma. Aber er gibt auch noch diejenige weg, die ihm am meisten auf geschöpflicher Ebene verbunden ist: seine Mutter Maria gibt er an Johannes "Siehe da deine Mutter".
Die Ostkirche führt das in der Liturgie der Osternacht, wie oben schon dargelegt, noch weiter: Er steigt wie der "neue" und eigentliche Herakles auch noch ab in die Unterwelt, läßt sich vom Hades verschlingen, der aber daran sich selbst "verschluckt" und ihn und alle "Verschlungenen" freigeben muss durch diese äußerste Form der Erniedrigung des Gottessohnes.

4. Einheit und Vielfalt in der Kirche als Frucht der Ausgießung des Heiligen Geistes

Nach Weihnachten hatte ich wieder die Gelegenheit, die syrische orthodoxe Kirche in Indien zu besuchen. Diese Kirche lebte seit den apostolischen Zeiten räumlich und dann sehr bald auch innerlich von der Gesamtkirche getrennt (Ablehnung des Konzils von Chalkedon), und war damit von der weiteren Entwicklung der Gesamtkirche ausgeschlossen, besonders seit dem 5. christlichen Jahrhundert. So ist sie Spiegelbild der frühen Kirche, da sie die späteren Entwicklungen nicht mehr mitmachen konnte.
Wenn man einen Gottesdienst dort mitfeiert, fällt folgendes besonders auf:
Die frühe Christenheit hatte keine Darstellungen und Bilder in der Kirche (ähnlich wie bei unseren evangelischen Reformierten), sondern nur einige Symbole: Weintrauben, Ähren, Kelch und Kreuz - letzteres aber nur als "Lebensbaum" in Kreuzesform oder als Verbindung von Kreuz und Sonnenrad, keineswegs aber mit einer Darstellung von Christus oder gar von Christus in seinem Leiden und Sterben.
Darum fällt dort ein Symbol sofort in die Augen, das an der Fassade der Kirche, im Altarraum, an der Priesterkleidung und besonders auch an der liturgischen Kleidung und Kopfbedeckung des Bischofs groß dargestellt ist: die weiße Taube, Symbol des Heiligen Geistes.
Wenn dann der Bischof den Heiligen Geist auf die zu konsekrierenden Gaben herabruft zur Wandlung oder auf einen Menschen zur Priesterweihe, bewegt er die Hände ganz ausdrucksvoll in rhythmischen Bewegungen von oben nach unten - es erscheint wie das Herabschweben eines Vogels auf diese eucharistischen Gaben oder auf diesen zu weihenden Menschen - um das auszudrücken, was der Engel zu Maria sagt: der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.
Diese syrische Kirche hat noch den semitischen Ausdruck für Geist, der weiblichen Aspekts ist. So kann man Genesis 1,2 übersetzen: die Geisteskraft Gottes schwebte brütend über den Wassern der Urflut. Da sieht man schon das Urbild des Muttervogels, der brütend, wärmend, hegend, nährend und behütend das All umfängt und, gleichsam wie die Mutter des Ganzen, das All zur Fülle der Entfaltung und Reife bringt. Nicht zufällig findet man in allen Urtraditionen der Menschen, in den großen Weltreligionen, dieses Bild des Muttervogels: von der Ischtar Ägyptens bis zur Urmutter Dao Asiens.
Es ist bezeichnend für die innere Verbundenheit der Uroffenbarung an alle Menschen und der besonderen Offenbarung unserer Heiligen Schrift: Gerade in diesem der damaligen heidnischen Welt so bekannten Zeichen, dem bei allen Völkern so bekannten Symbol der Taube oder des Muttervogels, erscheint der Heilige Geist bei der Taufe Jesu am Jordan.
a. Meist verbinden wir in unserem Denken die Wirkung des Heiligen Geistes mit den beiden gewaltigen Zeichen von Pfingsten: Feuer und Sturmesbrausen, wieder mehr Bilder von Allmacht und unwiderstehlicher Gewalt.
Doch auch vom Heiligen Geist ist oft die Rede vom sanften Wehen (Säuseln). Sein Wirken ist universal in der ganzen Schöpfung, er erfüllt den ganzen Erdkreis und belebt alles. Vom Heiligen Geist ist in der ganzen Heiligen Schrift die Rede: von der Genesis bis zur Apokalypse (Der Geist und die Braut sagen: komm!), wenn auch unsere christozentrisch, ja christo-monistisch geprägte Theologie wenig von ihm spricht.
Das für ihn meist gebrauchte Wort ist da wohl: Kraft - dunamiV - deutsch: Dynamik, die Energie, die Lebenskraft, die Seele des Ganzen. Diese steht bewußt immer im Gegensatz zur menschlichen Schwachheit, zum Nichts, in das alles zurückfallen würde, wenn er nicht alles beleben würde. Ps. 104: Nimmst du ihnen deinen Atem, deinen Hauch, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub der Erde. Sendest du deinen Geist aus, so werden sie geschaffen und du erneuerst das Antlitz der Erde. Darum möchte ich im Folgenden auch das Wort die Geisteskraft gebrauchen.
Ist nicht auch da die Kenosis der Liebe Gottes, die sich – nun in einem mehr mütterlich-weiblichen Aspekt – ausbreitet auf alles Leben, mitgeht und am Leben erhält, was nichtig und eitel (vanitas) wäre ohne ihn?
In der deutschen Sprache klingt der Heilige Geist männlich, während in der Ursprache der Bibel und in den alten Sprachen der Menschheit, sowie auch in den Wirkungen des Geistes vor allem fraulich-mütterliche Eigenschaften hervortreten: die Kraft, die Gnade, die Güte, die Schönheit usw. sind typische Eigenschaften des Geistes, wie wir sie aus der heiligen Schrift kennen, ebenso die Früchte des Geistes (Liebe Güte, Sanftmut, Geduld usw siehe Gal 5,20 u.a.) sowie auch die Tätigkeit des Geistes (geboren aus dem Wasser und dem Geist). Ja die ganze Schöpfung liegt in Geburtswehen zusammen mit der ganzen Menschheit in Erwartung der Vollendung, der Neuschöpfung und Kindschaft (Röm 8,22-24). Die Wiedergeburt aus dem Geist wird im Nikodemusgespräch sehr drastisch geschildert (Rückkehr in den Mutterschoß? fragt Nikodemus).
Der große russische Theologe S. Bulgakov stellt (mit dem hl. Irenäus von Lyon) fest: Gott der Vater ist und bleibt unsichtbar: er wirkt aber sichtbar in der Schöpfung und besonders im Menschen, - gleichsam wie mit seinen beiden greifbaren Händen, - im Sohn und im Geist. Während aber nun im Logos mehr das rational-männliche Angesicht Gottes (Logos = Wort, Verstand, Ratio) erscheint und wirkt, zeigt sich Gott im Heiligen Geist mehr in seinem mütterlich-weiblichen Aspekt. Und auch wir entdecken neben Gott dem Logos, der Ratio, den Gott, der gleichzeitig auch die Liebe ist, neben der Ordnung und Zielstrebigkeit die Liebe ist als "Seele des Ganzen".
Darum sprechen die russischen Religionsphilosophen gern über die "All-Einheit", deren "Seele des Ganzen" die Sapientia (increata et creata) ist.
Aljoscha in "Die Brüder Karamasov" von Dostojewski: "Brüder, liebt die Schöpfung in ihrer Gesamtheit und ihren Einzelelementen: jedes Blatt, jeden Sonnenstrahl, die Tiere und Pflanzen. Wenn ihr jedes Ding liebt, werdet ihr das göttliche Geheimnis der Dinge verstehen. Habt ihr es aber einmal verstanden, werdet ihr es jeden Tag besser kennen und schließlich die ganze Welt mit einer umfassenden Liebe lieben." Die ist die Antwort auf die sich in die Schöpfung verströmende Liebe Gottes, die auch ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns geschenkt ist (Röm 5,5).
b. Das bringt auch die ecclesia orans, die betende Kirche, zum Ausdruck: Betrachten wir kurz ihre Selbstdarstellungen in Bild und Gebet:
In den alten Kirchen finden Sie auf den Mosaiken und Fresken nie den Vater dargestellt, sondern nur den Sohn im Bild des Lammes oder in seiner menschlichen Gestalt.
Aber auch den Heiligen Geist finden wir dargestellt im Bild der Taube, häufig in Verbindung mit Maria, die man im Osten gerne nennt: das Gefäß des Heiligen Geistes, ja die Ikone, das menschliche Abbild des Heiligen Geistes in seiner reinsten menschlichen Form und Gestalt. So auch als menschliche Personifizierung der Sophia - sapientia (siehe: bei uns wie auch im Osten erscheinen die Sapientialtexte der heiligen Schrift als Lesungen an den Muttergottesfesten!)
Wenn wir darum das uralte Gebet der Kirche betrachten: "Komm herab o Heiliger Geist", dann fällt uns auch hier auf, dass die Tätigkeit des Heiligen Geistes, unseres Anwalts, Beistands und Trösters, des "Fingers der Rechten des Vaters" und wie die vielen Namen dieser Geisteskraft in der Heiligen Schrift und im Gebet der Kirche auch lauten mögen, vor allem in dieser mütterlichen Sorge und Pflege geschildert wird:

In der Unrast schenkst du Ruh,
hauchst in Hitze Kühlung zu,
spendest Trost in Leid und Tod.

Ohne dein lebendig Wehn,
kann im Menschen nichts bestehn,
kann nichts heil sein und gesund.

Was befleckt ist, wasche rein,
Dürrem gieße Leben ein,
heile du, wo Krankheit quält,

Wärme du, was kalt und hart,
löse, was in sich erstarrt,
lenke was den Weg verfehlt.

Dieses Bewußtsein der hegenden, pflegenden und heilenden und im Tod beistehenden göttlichen Geisteskraft in der Schwachheit des kranken und sterbenden Menschen, dieses Sich-Herabneigen zu den Schwachen, war wohl auch der Grund, warum die meisten im Mittelalter gegründeten Hospitäler bis heute Heilig-Geist-Spital heißen (Rom, Nürnberg, usw.).
c. Sohn und Geist gehören zusammen. In der Heiligen Schrift wird diese Einheit im außertrinitarischen Wirken immer betont, so wie eben auch im Menschen Verstand und Herz eins sind: "Willst du aus dem Geist leben, sei in Christus, dann nimmst du teil an Seinem Geist" betont der hl. Augustinus immer wieder.
Logos – logisch, rational: Intellektuelles Erkennen durch Öffnen der Augen auf die Wirklichkeit draußen (cognitio est adaequatio inter intellectum et rem)
Pneuma - Geist, Geisteskraft, Seele des Ganzen: Mystisches Erkennen durch Schau nach innen (muein - die Augen schließen, um die inneren Zusammenhänge zu sehen)
d. Reinstes und vollkommenstes Vorbild (Urbild) der Kirche ist Maria, sie wird in der Schrift genannt: voll der Gnade, das heißt voll des Heiligen Geistes (sola gratia); voll des Glaubens: selig, die du geglaubt hast (sola fides); sie trägt Christus im Schoß und trennt sich nie von ihm: Das ist der Sinn des Dogmas der "jungfräulichen Geburt" (solus Christus) und sie ist die personifizierte heilige Schrift, wie die Ostkirche von ihr singt: "du bist die lebendige Bibel, in dich hat sich der Heilige Geist eingeschrieben, nicht mit Tinte auf Pergament, sondern lebendig in dein Herz" (sola scriptura).
In ihr leuchtet die ursprüngliche Schönheit des Menschen und der Schöpfung auf. Sie war und ist von der Menschheit Christi nie getrennt, die in und aus ihr vom Heiligen Geist gebildet wurde: das vergeht ja nicht, denn es ist Gottes Tun, aus der Ewigkeit in die Ewigkeit hinein getan.
Auch die Ostkirche sieht diese reine Schöpfung in reinster Gestalt in Maria, der "All-Heiligen, All-Reinsten, Immerwährenden Jungfrau und Gottesmutter Maria", wie sie in der Chrysostomus-Liturgie genannt wird.
Davon spricht aber auch Luther, der in seinem Kommentar zum Magnificat "respexit humilitatem" nicht mit "Niedrigkeit" übersetzt sondern mit "Nichtigkeit", damit das "rein aus Gnade" noch deutlicher hervorkomme in dieser Idealgestalt der Erlösung, der ähnlich zu werden in der Rechtfertigung durch Gott, das christliche Vollkommenheitsideal ist (rein aus Gnade, ganz glaubend, ganz in Christus, lebendige Bibel).
In der katholischen Kirche ist es gelungen – entgegen mancher übertriebener Forderung – die Einheit zwischen Maria und der Kirche deutlicher herauszustellen. Dazu ein Abschnitt aus der dogmatischen Konstitution über die Kirche (Lumen Gentium) Nr. 52 "Er stieg für uns Menschen und um unseres Heiles willen vom Himmel herab und ist Fleisch geworden durch den Heiligen Geist aus Maria der Jungfrau. Dieses göttliche Heilsmysterium wird uns offenbar und wird fortgesetzt in der Kirche ... Daher wird sie [Maria] auch als überragendes und völlig einzigartiges Glied der Kirche wie auch als ihr Typus und klarstes Urbild im Glauben und in der Liebe gegrüßt, und die katholische Kirche verehrt sie, vom Heiligen Geist belehrt, in kindlicher Liebe als geliebte Mutter".
LG 63: Die selige Jungfrau ist aber durch das Geschenk und die Aufgabe der göttlichen Mutterschaft, durch die sie mit ihrem Sohn und Erlöser vereint ist, und durch ihre einzigartigen Gnaden und Gaben auch mit der Kirche aufs innigste verbunden. Die Gottesmutter ist, wie schon der heilige Ambrosius lehrte, der Typus der Kirche unter der Rücksicht des Glaubens, der Liebe und der vollkommenen Einheit mit Christus. Im Geheimnis der Kirche, die ja auch selbst mit Recht Mutter und Jungfrau genannt wird, ist die selige Jungfrau Maria vorangegangen, da sie in hervorragender und einzigartiger Weise das Urbild sowohl der Jungfrau wie der Mutter darstellt."
Gefäß des Geistes ist auch die Kirche, die Ausweitung dieser Herabkunft des Geistes auf Maria, die Ausweitung auf die ganze Menschheit und die Fülle des Leibes Christi, der stets erneuert und geeint wird in der Kraft des Heiligen Geistes: "Wo die Kirche ist, dort ist auch der Geist Gottes; und wo der Geist Gottes ist, dort ist auch die Kirche und jede Gnade" (Irenäus).
Darum werden die vielen Bilder des Alten Testaments sowohl auf Maria (vgl. Akathistos Hymnos, Lauretanische Litanei) als auch auf die Kirche angewandt.
Wir können die ganze Heilsökonomie von Schöpfung, Erlösung, Heiligung und Vollendung, das ganze Geheimnis der Kirche, an dem vollkommenen, aber geschaffenen Bild der ganzen Schöpfung ablesen, das uns selbst von Gott gegeben wurde: an Maria, die in ihrer ganzen Hingabe an den Willen des Vaters und in ihrem Dienst an ihrem und Gottes Sohn und als vollkommener Tempel des Heiligen Geistes die Kirche personal dargestellt und doch auch wieder in keinem ihrer vielfältigen Bilder und Ikonen ganz dargestellt werden kann, als Bild und Vorbild zugleich für Einheit und Vielfalt der Kirche, der Schöpfung, der in die Göttliche Trinitarische Einheit Gerufenen, die selbst neue Schöpfung des Vaters, Glieder am Leibe Christi und Tempel des Heiligen Geistes werden, siehe Lumen Gentium Nr. 53: "Im Hinblick auf die Verdienste ihres Sohnes auf erhabene Weise erlöst und mit ihm in enger und unauflöslicher Verbindung geeint, ist sie mit dieser höchsten Aufgabe und Würde beschenkt, die Mutter des Sohnes Gottes und daher die bevorzugt geliebte Tochter des Vaters und das Heiligtum des heiligen Geistes zu sein".
Für uns ist diese personale Sicht von Kirche im Urbild Mariens schwer zu begreifen: wir sehen die Kirche oft vor allem als Organisation, Struktur, Congregatio fidelium, in die man eintreten und austreten kann, und nicht so sehr als einen lebendigen Organismus, beseelt vom Heiligen Geist. Die Einzelnen werden als Glieder durch den Geist mit der einen aus Maria genommenen Menschheit Christi verbunden zu einem Leib, beseelt vom Geist. Wir fragen: "was ist die Kirche?" und nicht "wer ist die Kirche?".
Augustinus sagt dazu: "Was starrst du dauernd auf die Füße der Braut Gottes, die noch schmutzig sind vom Wandeln über diese Erde, was schaust du auf den Saum ihres Gewandes, der noch zerrissen ist wegen der Felsen auf dem Weg (Verfolgungen), schau ihr ins Antlitz und du wirst sie ihrer Schönheit wegen lieben, wie Gott sie liebt".
Vom einzelnen Gläubigen wie von der Gemeinschaft der Kirche gilt, was Urs von Balthasar sagt: "Unsere intimsten Akte des Glaubens, Liebens und Hoffens, unsere Stimmungen und Fühlungen, unsere personalsten, freiesten Entschlüsse: all dies Unverwechselbare, das wir sind, ist von ihm (vom Hl. Geist) so durchatmet, dass das letzte Subjekt - auf dem Grund unseres Subjekts - Er selber ist".
Welche Erniedrigung (Kenosis) der Drei Personen der Heiligsten Dreifaltigkeit äußert sich in der Erhöhung der begrenzten und der vanitas vanitatum unterworfenen Schöpfung!

5. Einige Beispiele als Ansätze einer praktischen Anwendung des Prinzips "Einheit und Vielfalt"

a. Prälat Lothar Waldmüller faßt in einem Artikel mit der Überschrift: "Überlegungen, wie die volle Communio der orthodoxen Kirchen mit Rom erlangt werden könnte" diese Gedanken noch konkret und wendet sie auf die heutige Situation der Beziehungen der Schwesterkirchen an (in: Der Christliche Osten, Würzburg, 1998/1, S. 9-15, hier S. 13f):
"Fragen wir nach all den vorangegangenen Überlegungen, wie die Herstellung der vollen Communio zwischen Rom und den orthodoxen autokephalen Kirchen nun tatsächlich realisiert werden könnte. Voraussetzung ist, wie schon gesagt, dass jede Kirche die andere als rechtgläubig anerkennt, die unterschiedliche Ausdrucksweise des im wesentlichen gemeinsamen Glaubens in Theologie und kirchlichem Leben als legitim akzeptiert und auf alle Maximalforderungen verzichtet. Ist diese Einheit im Glauben, in den Sakramenten und im kirchlichen Amt gegeben und sind die historischen Verletzungen durch Versöhnung geheilt, dann gibt es nichts mehr, was Trennung rechtfertigen würde".
"Wenn der Primat Roms in dem vom Westen definierten Sinne dazugehört (wir haben bei unserer letzten Begegnung in St. Ottilien ausführlich darüber gesprochen), dann wird der Herr der Kirche diese im dritten Jahrtausend auch dahin führen, dass alle diese Rolle Roms anerkennen werden, aber das muss nicht unsere Sorge heute sein.
Es wäre ein Glaubenszeugnis von höchstem Range, wenn beide Kirchen in die volle Communio mit einem solchen Vertrauen auf eine gemeinsame Zukunft unter der Leitung des Heiligen Geistes eintreten würden. Es wäre zugleich eine Absage an alles menschliche "Machertum", als ob wir die Einheit "machen" könnten. Sich der Führung des Geistes Gottes zu überlassen, ist Ausdruck höchster Glaubensstärke. Alles aber bis in Detail vorher selber regeln zu wollen nach dem Motto "nur wenn ich es selber mache, weiß ich, dass es richtig geschieht", wäre Ausdruck mangelnden Glaubens an die Wirkmächtigkeit des Geistes Gottes in seiner Kirche und ein katastrophales Versagen vor den Augen der Welt. Bei der engen Verbindung von Strukturproblemen mit Machtfragen läge hier eine große Gefahr für die Kirchen. Die Häupter der Kirchen sind aufgefordert, als Vorbilder in Glaube und Gehorsam gegenüber dem eigentlichen Haupt der Kirche, Christus, in Demut auf dem Weg zur vollen Einheit der Kirchen voranzugehen!
"Das wäre der entscheidende Beitrag zur Neuevangelisierung der müde gewordenen christlichen Welt. Eine Kirche, die wieder mit "beiden Lungenflügeln" atmet, kann getrost die Schwelle ins dritte Jahrtausend überschreiten!"

b. Prof. Dr. Ernst Christoph Suttner, Kirche und Nationen, S. 490-492: Die Gemeinsamkeit der Schwesterkirchen suchen (Augustinus-Verlag Würzburg, 1997):
Schwesterkirchen auf demselben Territorium ohne volle Gemeinschaft untereinander stehen unter dem Gericht der ernsten Worte an die Kirche von Korinth im 1. Kapitel des 1. Korintherbriefes. Denn die Kirche ist eine, und was in ihr Spaltung verursacht, ist zu bereinigen. Keineswegs soll aber Einförmigkeit erstrebt werden. Die eine Kirche Christi, die nicht aufgespalten sein darf in Schwesterkirchen ohne volle Gemeinschaft, kann durchaus auf demselben Territorium in und aus mehrgestaltigen Schwesterkirchen bestehen, sofern diese untereinander volle Gemeinschaft pflegen. Die legitimen Unterschiede zwischen den Schwesterkirchen dürfen auf die Dauer fortbestehen.
Vielleicht kann das Ordensrecht der katholischen Kirche bei der Suche nach der Ordnung für die Gemeinschaft verschiedengestaltiger Schwesterkirchen auf demselben Territorium helfen. Die katholischen Ordensgemeinschaften sind autonom. Sie führen ein spezifisches geistliches Leben und breiten es aus. Die Unterschiede zwischen ihren geistlichen Lebensformen sind so groß, dass der Übertritt von einer Gemeinschaft in eine andere als grundlegend angesehen wird und kanonischer Vorschriften bedarf, obwohl es vom Standpunkt der Ekklesiologie aus keine gewissensmäßigen Bedenken gegen ihn gibt. Über den Einsatz ihrer Mitglieder im Dienst der Ortskirchen bestimmen die Gemeinschaften selbst und stellen für ihre zu diesem Dienst entsandten Mitglieder Obere aus den eigenen Reihen auf. Die entsandten Ordensleute helfen aktivst im Seelsorgsdienst der einzelnen Ortskirchen mit und pflegen dabei die spirituellen Traditionen ihrer eigenen Gemeinschaft, ohne deswegen die Ortskirchen aufzusprengen.
Denn das katholische Ordensrecht stellt sicher, dass sie ihren Dienst unter der Verantwortung der Hierarchen der jeweiligen Ortskirche verrichten. Die Diözesen bleiben somit eine ungeteilte Ortskirche, aber in ihnen gibt es eine vielgestaltige Spiritualität, und allen Gläubigen steht es frei, der Predigt und den Gottesdiensten dort beizuwohnen, wo ihre geistlichen Bedürfnisse am besten gewahrt sind.
Ließe sich eventuell eine Kirchenordnung finden, der zufolge auf dem historischen Territorium des Moskauer Patriarchats die Bischöfe und Priester der Katholiken zu Mitarbeitern des Patriarchen von Moskau mit Sonderstatus würden und auf dem Gebiet des römischen Patriarchats die Bischöfe und Priester der Russen zu einem autonomen Klerus unter dem Papst? Die Kleriker auf beiden Seiten hätten dann das Recht und die Pflicht, die spirituellen Schätze ihrer Tradition allen Gläubigen anzubieten, die ihren Dienst in Anspruch nehmen wollen. Im plurikulturellen Europa von heute würde es auf diese Weise Katholiken und Orthodoxen ermöglicht, ohne Bruch mit der Ursprungsgemeinschaft bei jenem Klerus und in jener Ortsgemeinde geistliche Befruchtung zu suchen, wo sie sie finden.
Da "leider der Prozess der Reorganisation der katholischen Kirche in den Ländern der GUS von Spannungen mit der orthodoxen Kirche begleitet war (die Formulierung stammt aus dem Dokument der Kommission "Pro Russia", Art. I/8), mag der Vorschlag gegenwärtig noch als utopisch eingestuft werden. Wer skeptisch ist, möge aber bedenken, dass unter den schweren Bedingungen der osmanischen Herrschaft griechische Bistümer noch im 17 . Jahrhundert Seelsorgshilfe durch katholische Kleriker erfuhren und dass damals Katholiken und Orthodoxe einander sogar das Weihesakrament spendeten (vgl. Dr. Suttner "Theologische und nicht-theologische Motive für die Unionen von Marca, Uzgorod und von Siebenbürgen" im oben genannten Band). Sollte unter den noch viel schwierigeren Bedingungen nach der sowjetischen Religionsverfolgung eine vergleichbare gegenseitige Hilfeleistung der Schwesterkirchen wirklich undenkbar sein? Nachdem die orthodoxen, armenischen, mit Rom unierten orientalischen und lateinischen Ortskirchen in unseren Tagen endlich die Einsicht wiedererlangten, dass sie nicht Rivalinnen, sondern Schwesterkirchen sind, müssten sie doch auch erkennen, dass es die eine und einzige Kirche Christi fördert, wenn sie dazu beitragen, dass eine andere von ihnen wächst.

c. Im Geiste der "Vielfalt in der Einheit" könnten auch all die Bemühungen gesehen werden, die von geistlichen Gruppen und Ordensgemeinschaften der orthodoxen und der katholischen Kirchen ausgehen im Sinne des "Geistlichen Ökumenismus". Überlegungen, die sich eine katholische Ordensgemeinschaft gemacht hat – die Ordensgemeinschaft der Dominikaner:

Es ist notwendig, darüber zusammen mit den orthodoxen Autoritäten nachzudenken, welchen Sinn und welche Bedingungen eine Errichtung eines großen religiösen lateinischen Ordens wie des Ordens der "Predigerbrüder" haben kann (oder der weiteren dominikanischen Familie).
Diese Option muss bedacht und besprochen werden, denn sie wirft eine Menge Fragen auf, die reflektiert und vertieft werden müssen:
Auch wenn wir uns über diese "Äußerlichkeiten" ewig streiten könnten, so wissen wir doch, dass unabhängig von unserem Denken, Handeln, Wollen und Tun die Liebe Gottes steht, die die Einheit der Vielfalt will und selber ist. Denn das Anliegen dieses Referats ist es, dass das Ur-Prinzip (arch-tupoV) von Einheit und Vielfalt in Schöpfung, Erlösung, Vollendung das innerste Geheimnis des Dreifaltigen ist.
Dazu zum Abschluss ein Wort aus dem Dekret über den Ökumenismus des II. Vatikanischen Konzils in Nr. 2: "So ist die Kirche, Gottes alleinige Herde, wie ein unter den Völkern erhobenes Zeichen. Indem sie dem ganzen Menschengeschlecht den Dienst des Evangeliums des Friedens leistet, pilgert sie in Hoffnung dem Ziel des ewigen Vaterlandes entgegen.
Dies ist das heilige Geheimnis der Einheit der Kirche in Christus und durch Christus, indes der Heilige Geist die Mannigfaltigkeit der Gaben schafft.
Höchstes Vorbild und Urbild dieses Geheimnisses ist die Einheit des einen Gottes, des Vaters und des Sohnes im Heiligen Geist in der Dreiheit der Personen."


Dr. Albert Rauch
Ostkirchliches Institut
Regensburg