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zur Vertreibung der Armenier 1915


Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christoph Bergner, Dr. Friedbert Pflüger, Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU

Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages
des Auftakts zu Vertreibungen und Massakern an den Armeniern
am 24. April 1915
Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen

- Drucksache 15/4933 -

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine dreiviertel Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Christoph Bergner, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir gedenken in diesen Tagen in besonderer Weise der Hunderttausenden Armenier, eingeschlossen zahlreiche aramäische und chaldäische Christen, die vor 90 Jahren im Osmanischen Reich brutal vertrieben, vielfach furchtbar misshandelt und mit planvoller Konsequenz und oft zügelloser Grausamkeit getötet wurden. Wir gedenken der weitgehenden Vernichtung einer jahrhundertealten Kultur auf dem Boden Anatoliens, die dort lange Zeit in Gemeinschaft mit anderen Kulturen bestehen konnte.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

Seit dem ökumenischen Gottesdienst in der nahen Hedwigs-Kathedrale am 24. April 1919 haben Kirchen, Literatur und Wissenschaft in Deutschland dieser Tragödie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Nicht so die Politik! Der Antrag, den wir Ihnen heute vorlegen, ist somit der erste Versuch deutscher Politik, aus eigenem Antrieb zum Schicksal des armenischen Volkes Stellung zu nehmen. Keine deutsche Regierung, kein deutsches Parlament hat dies während der zurückliegenden 90 Jahre getan. Andererseits ist der 90. Jahrestag, der Anlass für unseren Antrag war, vermutlich der letzte runde Gedenktag, an dem noch Augenzeugen leben.

Wenn wir uns als Deutscher Bundestag jetzt diesem auf politischer Bühne lange verdrängten Thema stellen, so sollten wir es mit möglichst großer Einmütigkeit tun. Deshalb werden wir um Überweisung des Antrags in die Ausschüsse bitten und auf eine fraktionsübergreifende Beschlussfassung hoffen.

Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätte die Debatte um das Schicksal der osmanischen Armenier bereits 1916 hier im Reichstag stattfinden können. Unweit von hier informierte Johannes Lepsius am 7. Oktober 1915 die Presse. Die deutsche Militärzensur verhinderte jedoch die Verbreitung seiner Berichte zur Lage des armenischen Volkes in der Türkei. Die Zensur unterband auch die Information der Reichstagsabgeordneten. So fand die Debatte nicht statt. Jetzt, 90 Jahre später, ist sie in den Reichstag zurückgekehrt.

Das Dilemma und die Motive der deutschen Reichsregierung damals verdeutlicht schlaglichtartig eine Notiz des Reichskanzlers Bethmann Hollweg. Er reagierte auf die dringende Forderung des deutschen Botschafters Wolff-Metternich, der türkischen Regierung wegen der Armenierverfolgung in den Arm zu fallen. Ich zitiere zunächst aus der Depesche von Wolff-Metternich:

Um in der Armenierfrage Erfolg zu haben, müssen wir der türkischen Regierung Furcht vor den Folgen einflößen. Wagen wir aus militärischen Gründen kein festeres Auftreten, so bleibt nichts übrig, als zuzusehen, wie unser Bundesgenosse weiter massakriert.

Der Reichskanzler Bethmann Hollweg dazu:

Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während eines laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nie dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.

Das war die Haltung des Deutschen Reiches 1915/16.

Beherrscht von der Logik eines die europäischen Völker zermalmenden Krieges machte sich Deutschland einer Haltung schuldig, die wohl als unterlassene Hilfeleistung gegenüber dem von Vernichtung bedrohten armenischen Volk bezeichnet werden muss.

(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Mit dem Eingeständnis dieser unserer Schuld wird auch unsere heutige Verantwortung deutlich. Wir Deutsche stehen in einer besonderen Zeugenschaft für die Vorgänge der Jahre 1915/16. Die Dokumente im politischen Archiv des Auswärtigen Amts über die Ereignisse im Osmanischen Reich können von niemandem - auch nicht von der türkischen Regierung - in Zweifel gezogen werden. Als Zeugen und ehemalige Kriegsverbündete des Osmanischen Reiches haben wir Deutsche eine besondere Verantwortung, auf der Basis der historischen Wahrheit zur Verständigung und Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beizutragen.

(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Dieser Zeugenpflicht dürfen wir uns nicht entziehen, wenn wir uns nicht erneut schuldig machen wollen.

Ich verweise auf einen intensiven Briefwechsel und viele Diskussionen mit türkischen Freunden und Partnern, die nach Vorlage unseres Antrages stattgefunden haben. Die Stellungnahmen offizieller türkischer Vertreter und nicht zuletzt die Erklärung der Großen Nationalversammlung vom 13. April dieses Jahres haben verdeutlicht, wie schwierig es ist, den Inhalt unseres Antrages und die Redlichkeit unseres Anliegens der türkischen Seite zu vermitteln. Auch heute habe ich einen Brief vom Verband Türkischer Unternehmer und Industrieller in Europa bekommen, in dem uns vorgeworfen wird, hinter unserem Antrag stehe eine gezielte Diskriminierungskampagne gegen die Türkei. Er sei ein klarer Beweis unserer türkeifeindlichen Grundhaltung und eine vorsätzliche Diskriminierung der Türkei und der Türken. Dies ist falsch. Das Gegenteil ist vielmehr richtig.

(Beifall bei der CDU/CSU
sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Wir wollen diese Diskussion fortsetzen, weil wir glauben, dass eine Öffnung des türkischen Staates im Hinblick auf den Umgang mit der türkisch-armenischen Vergangenheit im wohlverstandenen Interesse der Türkei selbst sein kann.

Wir haben bei der Formulierung unseres Antrages auf die juristische Kategorisierung durch die Begriffe "Völkermord" bzw. "Genozid" bewusst verzichtet. Dieser Verzicht geschah nicht, weil wir die Ereignisse, deren wir gedenken, verharmlosen oder beschönigen wollten; dafür besteht kein Anlass.

Wir möchten etwas anderes verdeutlichen. Es geht uns ausdrücklich nicht darum, die türkische Republik oder gar ihre Bevölkerung auf die Anklagebank zu setzen. Unser Antrag ist vielmehr der Versuch, die Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches in das einzubeziehen, was man mit Blick auf die Konflikte, Verwüstungen und Verbrechen des 20. Jahrhunderts in Europa "europäische Erinnerungskultur" nennen könnte, eine Erinnerungskultur, die wir in diesen Wochen um den 60. Jahrestag des Ende^s des Zweiten Weltkriegs in besonderer Weise erleben. Diese Erinnerungskultur wurde Grundlage einer Aussöhnung, die die Gemeinschaft europäischer Staaten erst möglich gemacht hat.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nur so konnten frühere Kriegsgegner, ja Erbfeinde in der EU vereint werden. Auf dieser Grundlage konnten Staaten zusammengeführt werden, die sich in den Zeiten des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation jahrzehntelang angriffsbereit gegenüberstanden. So ist die Europäische Union in ihrem Kern ein Aussöhnungsprojekt, das auf gemeinsamer Geschichtsbewältigung beruht.

Unser Antrag soll eine Einladung an unsere türkischen Partner und Freunde sein, sich diesem Prozess zu stellen. Dies ist im Interesse der Türkei selber. Wir möchten herzlich dazu einladen.

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Markus Meckel, SPD-Fraktion.

Markus Meckel (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erinnern und gedenken heute der Opfer des Völkermords an den Armeniern vor 90 Jahren. Wir wollen das allzu lange Schweigen, von dem eben schon die Rede war, brechen und einen Beitrag dazu leisten, den Toten ihre Ehre und ihre Würde wiederzugeben. Gleichzeitig denken wir aber an alle Opfer dieser Jahre: an die Christen der verschiedenen ethnischen Gruppen im Osmanischen Reich, an Tataren, Türken und Kurden, die ebenfalls zu Hunderttausenden umgekommen sind. Es kann und es darf kein Aufrechnen der verschiedenen Opfer geben.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich bin dem Kollegen Bergner für seine Initiative zu der heutigen wichtigen Debatte dankbar. Meine Fraktion ist überzeugt, dass wir in den Gesprächen und Beratungen, die wir im Ausschuss miteinander führen werden, zu einem gemeinsamen Antrag kommen werden.

Wir alle wissen: In der Türkei sind die damaligen Ereignisse noch heute heftig umstritten. Offiziell und mit Leidenschaft wird geleugnet, dass es sich bei den Deportationen und Massakern um eine gezielte staatliche Politik zur Vernichtung der armenischen Bevölkerung handelte. Wir halten es als deutsche Parlamentarier für wichtig, uns mit dieser Frage auseinander zu setzen, nicht zuletzt deshalb, weil sie Teil unserer eigenen Geschichte ist. Deutsche Regierungen haben nach dem Ersten Weltkrieg nie - das wurde schon angesprochen - aus eigenem Antrieb der armenischen Opfer gedacht und sich zu ihrer Mitverantwortung bekannt.

Dieses Schweigen in Deutschland und international in vielen Bereichen hat ein Mann wie Adolf Hitler genau beobachtet. Am 22. August 1939, wenige Tage vor dem Kriegsbeginn, hat er auf dem Obersalzberg der deutschen Militärführung die gnadenlose Vernichtung der polnischen Bevölkerung angekündigt und aufgetragen. Die noch vorhandenen Skrupel der Militärs versuchte er mit dem Satz zu beseitigen: "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?"

Glücklicherweise gab es auch andere Stimmen in Deutschland, die sich ehrlich und intensiv bemühten. Der evangelische Theologe Johannes Lepsius wurde schon erwähnt mit seinen vielfältigen Bemühungen und seiner Rede im Presseklub, aber eben auch mit seiner Dokumentation nach den furchtbaren Ereignissen. Es wurde schon berichtet von der Zensur der öffentlichen Stellen damals - die deutschen Reichstagsabgeordneten bekamen seine Dokumentation erst Jahre später zugestellt - und auch von der Aussage des Reichskanzlers, die auch ich in meinem Manuskript stehen habe, weil es so eklatant ist, dass wir, dass die kaiserliche deutsche Politik im Ersten Weltkrieg dies einfach hingenommen hat. Darauf beruht auch unsere besondere deutsche Verantwortung, uns dieser Geschichte zu stellen.

Die Archive des Auswärtigen Amts sind seit langem offen, auch für die internationale Forschung, die die Ereignisse anhand der Akten bereits deutlich rekonstruiert hat. Kopien sämtlicher relevanter Akten des Auswärtigen Amts wurden der Türkei und Armenien vor einigen Jahren übergeben. Es wäre gut, wenn sie auch in der Türkei für alle öffentlich zugänglich wären, vielleicht in wichtigen Teilen übersetzt.

(Beifall im ganzen Hause)

Allein aus den deutschen Akten geht klar hervor, dass das damals die Macht habende Komitee für Einheit und Fortschritt die Vernichtung der Armenier systematisch betrieb, mithilfe staatlicher Behörden und paramilitärischer Organisationen. Dass dies eine gezielte Politik war, gehört zur Definition des Begriffs "Völkermord", wie sie später in der UN-Konvention von 1948 verankert wurde. Dabei ist bemerkenswert, dass Raphael Lemkin, der diesen Begriff neu schuf und wesentlich zur Durchsetzung dieses neuartigen völkerrechtlichen Instruments beigetragen hat, von sich bekannte, dass er dabei sowohl das Schicksal der Armenier als auch das der europäischen Juden im Blick hatte.

Es wäre gut, wenn sich auch die Türkei der Erkenntnis öffnen würde, dass das Sichstellen der eigenen Geschichte, auch der eigenen historischen Verantwortung und Schuld, keinen Verzicht auf Patriotismus und nationalen Stolz bedeutet. Wir als Deutsche haben diese Erfahrung gemacht, uns einer wahrhaftig noch furchtbareren Geschichte und Schuld zu stellen. Wir haben dabei die Erfahrung gemacht, dass gerade daraus internationale Anerkennung gewachsen ist, ohne die übrigens auch die deutsche Wiedervereinigung nicht möglich gewesen wäre.

(Beifall im ganzen Hause)

Versöhnung setzt Offenheit voraus. Offenheit heißt, das ganze Bild der historischen Fakten offen zu legen. Gerade daraus kann Versöhnung und neu gewonnene Fähigkeit zu guter Nachbarschaft wachsen. In dieser Hinsicht ist es etwa wichtig, dass die türkisch-armenische Grenze geöffnet wird, was sowohl für den Osten der Türkei wesentlich ist als auch für das isolierte Armenien, das aus seiner Ecke herauskommen muss, in der es in vielen Bereichen steckt.

Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist wichtig, dass wir diesen Teil der Geschichte bei uns und anderswo in Europa, aber eben auch in der Türkei und in Armenien, verarbeiten, damit Geschichte endlich ruhen kann und unsere Zukunft nicht mehr belastet. Dies ist das Ziel der Beschäftigung mit der Geschichte, an der wir alle - das gilt auch für die Türkei - nicht vorbeikommen. Der 90. Jahrestag wäre meines Erachtens ein guter Anlass, dies zu tun.

Der Blick auf die heutige Türkei zeigt jedoch leider ein gespaltenes Bild. Es gibt durchaus hoffnungsvolle Anzeichen. Es gibt viele in der Gesellschaft, die das Thema aufgreifen. Ministerpräsident Erdogan selber hat im vergangenen Dezember das erste Museum über armenisches Leben in İstanbul eröffnet. Das ist ein wichtiger Schritt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Aus der Zivilgesellschaft heraus gab es übrigens deutlichen Widerstand gegenüber einem in meinen Augen relativ absurden Aufsatzwettbewerb, der sich vom Thema her gezielt gegen den Vorwurf des Genozids richtete. Viele haben es abgelehnt, sich daran zu beteiligen. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen.

Ich halte es auch für gut, dass sich das türkische Parlament in der vergangenen Woche erstmals in einer Plenardebatte mit diesem Thema befasst hat. Betrachtet man allerdings den Verlauf dieser Debatte, so stimmt einen dies eher betrübt,

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Ja, sie war leider nicht sehr ermutigend!)

weil darin alte Geschichtsbilder zementiert und erneut propagiert wurden.

Wenn einerseits die Ansicht vertreten wird, dass Geschichte nicht Thema der Politik sein darf, sondern den Historikern überlassen werden sollte, und andererseits beschlossen wird, das britische Parlament aufzufordern, das "Blaue Buch", eine Dokumentensammlung, zu Propaganda zu erklären, dann ist das ein Widerspruch und entspricht in keiner Weise dem, was heute notwendig ist.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)

Problematisch sind die diplomatischen Bemühungen auf europäischer, aber auch auf internationaler Ebene, die Behandlung mit dem Thema beiseite zu drängen oder mithilfe konkreter Kontakte zu verhindern. Dies wird dem Ansehen der Türkei nicht gerecht.

Für konstruktiv halte ich dagegen die bereits angesprochene Historikerkommission. Meiner Ansicht nach sollte sie aber nicht bilateral, sondern international zusammengesetzt sein. Dabei muss klar sein, dass Geschichte nicht verhandelbar ist. Es geht vielmehr darum, Geschichte öffentlich zu machen und einen öffentlichen Diskurs über die verschiedenen Akten und Perspektiven zu eröffnen, der für die Gesellschaften aller Länder notwendig ist. Es wäre sicherlich gut, wenn Armenien bereit wäre, sich an einem solchen Diskurs und einer solchen Kommission zu beteiligen.

Schlimm ist - damit möchte ich schließen -, dass in der Türkei die Behandlung dieses Themas leider bis heute unter Strafandrohung steht. Ich denke, dass das in keiner Weise akzeptabel ist, und das müssen wir sehr deutlich machen. Dass der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk unter Strafandrohung steht, weil er dieses Thema aufgeworfen hat, und zurzeit aus Angst vor Todesdrohungen im Untergrund lebt, ist ein Skandal für die Türkei. Ich denke, wir müssen die Türkei bzw. die türkische Regierung aufrufen, sich vor ihn zu stellen und deutlich zu machen: Wir wollen ihn schützen; wir wollen diesen Diskurs.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)

Gerade angesichts der Vorgänge in meinem Heimatland Brandenburg vor einigen Wochen muss ich gestehen, dass das ein Problem war. Man hat aber übersehen, dass das Problem nicht nur Brandenburg betrifft. Es war das erste Bundesland, in dem diese Themen im Unterricht behandelt wurden. Wir sollten uns insofern in allen Bundesländern dafür einsetzen, dass das Thema Bestandteil des öffentlichen Diskurses in Deutschland wird und dass in allen Schulen und Schulklassen offen mit dieser Geschichte umgegangen wird.

Ich hoffe, dass uns dies gelingt und dass wir gemeinsam dafür eintreten, uns zunächst einmal mit unserer eigenen Geschichte, zu der auch die türkische Geschichte gehört - denn wir alle leben in Europa und haben eine gemeinsame Geschichte -, so zu befassen, dass daraus eine gute gemeinsame Zukunft erwächst.

Ich danke Ihnen.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile dem Kollegen Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion das Wort.

Dr. Rainer Stinner (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Warum beschäftigen wir uns im Deutschen Bundestag 90 Jahre nach den hier zur Diskussion stehenden dramatischen Ereignissen mit Mord und Vertreibung mit diesem Phänomen? Es mag viele Gründe geben. Für mich ist der allerwichtigste Grund, dass wir als Deutsche und Europäer ein ganz vitales Eigeninteresse an einer friedlichen Entwicklung in dieser Nachbarschaftsregion haben. Das ist unser Interesse im Jahre 2005. Deshalb müssen wir uns auch mit der Geschichte beschäftigen.

Wir können und wollen aber keine Historikerkommission sein. Das ist nicht unsere Aufgabe. Es geht auch nicht - darin sind wir uns alle sicherlich einig - um Schuldzuweisungen an die heute lebenden Türken. Es geht vielmehr um einen Prozess der systematischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Damit haben wir selber jahrzehntelange, schmerzhafte Erfahrungen. Wir haben daraus zwei Lehren gezogen. Erstens. In einem solchen Prozess darf es immer nur darum gehen, das eigene Tun kritisch zu hinterfragen. Ganz schlimm ist, wenn man bei dem kritischen Hinterfragen versucht, eigene gegen fremde Tote aufzurechnen. Das ist falsch. Das haben wir gelernt. Wir rufen daher unseren Nachbarn zu: Liebe türkische Freunde, das ist nicht die richtige Art, mit der eigenen Geschichte umzugehen.

(Beifall im ganzen Hause)

Zweitens. Wir haben gelernt, dass bei einem solchen Prozess externer Druck durchaus hilfreich ist. Deshalb rufen wir den Türken und den Armeniern zu: Jawohl, wir als Deutsche und Europäer schauen auf euch und beobachten, wie ihr den Prozess, für den ihr verantwortlich seid, bewältigt! Wir tun das, weil wir euch ermutigen wollen, diesen Prozess in aller Offenheit zu gestalten.

Die historischen Fakten können und wollen wir in diesem Hause nicht im Detail analysieren. Dazu sind andere berufen. Es hat ja die Turkish Armenian Reconciliation Commission gegeben, die einen sehr ausführlichen und detaillierten Report verfasst hat. Dort kommt man letztendlich zu dem Schluss, dass es sich um einen Genozid handelt. Ich möchte das hier im Einzelnen nicht bewerten. Interessant ist aber, dass sowohl die Türkei als auch Armenien die Veröffentlichung dieses Reports abgelehnt haben.

In der Türkei haben bis zum heutigen Tage - das wissen wir alle; die Kollegen haben bereits darauf hingewiesen - eine Auseinandersetzung und eine systematische Aufarbeitung leider nicht stattgefunden. Wir glauben aber, dass es wichtig ist, das zu tun. Wir rufen den Türken zu: Jawohl, wir alle wissen, dass das ein schmerzhafter Prozess ist! Auch für uns war das über Jahrzehnte hinweg ein sehr schmerzhafter Prozess. Es gibt erste ermutigende Zeichen, wie zum Beispiel Erdogans Ankündigung, eine Historikerkommission einzusetzen. Auch hier hat Druck von außen geholfen, Bewegung in die Sache zu bringen. Deshalb müssen wir daran weiter mitwirken.

Der Antrag der Union ist eine Grundlage für die weitere Behandlung in den Ausschüssen. Wir sind dazu gerne bereit. Herr Bergner, für meinen persönlichen Geschmack ist der historische Teil des Antrags Ihrer Fraktion allerdings noch zu groß und der politische zu klein. Wir werden daran sicherlich gemeinsam arbeiten.

Wie eingangs gesagt, beschäftigen wir uns damit aus deutschem und europäischem Interesse. Wir haben Interesse an einer friedlichen Zusammenarbeit mit der Region und daran, dass unsere Nachbarschaftspolitik, die unser Geld, unsere Energie und unser Brain kostet, in dieser Region erfolgreich ist. Die Öffnung der Grenzen zwischen Armenien und der Türkei wäre sicherlich ein erster wichtiger Schritt.

In diese Stoßrichtung muss unsere Arbeit in den nächsten Wochen und Monaten gehen. Auf dieser Basis können wir gerne einen gemeinsamen Antrag erarbeiten. Wir werden dazu unseren Beitrag leisten.

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion begrüßt die Debatte, die heute im Bundestag über die Vertreibung und weitgehende Vernichtung des armenischen Volkes im Jahre 1915 stattfindet. Wir führen diese Debatte, weil wir es für entscheidend halten, dass das Gedenken an die Opfer bewahrt und erneuert wird, und weil wir die Türkei eines Tages in der Europäischen Union haben wollen. Wir führen sie nicht, weil wir zeigen wollen, dass ein Beitritt der Türkei zur EU nicht möglich wäre.

Ich will in Bezug auf die schrillen Töne, die wir, alle Fraktionen, in den letzten Wochen gehört haben, sagen: Diese Debatte ist keine Einmischung in eine innertürkische Angelegenheit. Der Deutsche Bundestag entscheidet allein - nur er entscheidet -, worüber er diskutiert und womit er sich befasst.

(Beifall im ganzen Hause)

Was in unseren Schulbüchern steht, wird in der Bundesrepublik Deutschland in den Bundesländern entschieden.

Jetzt kommt ein wichtiger Punkt: Wenn bei uns jemand der Überzeugung ist, dass in einem Schulbuch etwas Falsches steht, dann kann er das frei und öffentlich sagen und dann findet unter Umständen eine gesellschaftliche und politische Debatte darüber statt, ob er Recht hat oder nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Für uns ist diese Debatte europäisch und auch deutsch; deswegen müssen und können wir sie im Deutschen Bundestag führen. Beginnen wir also bei uns selbst. In verschiedenen Beiträgen ist schon deutlich gemacht worden, dass es eine in Kauf genommene Billigung der Vertreibung und der Vernichtung von Teilen des armenischen Volkes durch Deutschland gegeben hat; es gab eine spezifisch deutsche Verstrickung. Die Zitate von Bethmann Hollweg will ich nicht wiederholen. Konsuln in der anatolischen Provinz haben in vielen Drahtberichten an die Botschaft in Konstantinopel, aber auch nach Berlin nicht nur die Ereignisse, sondern auch das Planvolle der Ereignisse immer wieder im Detail vermittelt. Deswegen wusste man in Deutschland eindeutig Bescheid. Aber man hat sich darum - das drückt auch das vorher wiedergegebene Zitat aus - aufgrund irgendwelcher Interessen nicht kümmern wollen. Man hat geschwiegen.

Wir haben deswegen nicht nur ein Mitwissen, sondern auch eine Mitschuld. Ich möchte mich für meine Fraktion und, ich glaube, für alle in diesem Haus heute, 90 Jahre nach diesen schrecklichen Ereignissen, beim armenischen Volk für diese Mitschuld entschuldigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)

Wenn man sich die Debatte in den letzten Wochen in Deutschland, natürlich auch in der Türkei und in Armenien genau anschaut, dann hat man das Gefühl: Letztendlich scheint es nur noch um die Frage zu gehen, ob man von Völkermord spricht oder nicht. Ich halte diese Zuspitzung für falsch und unklug. Ich will diese Gelegenheit gern nutzen, um zu erklären, warum. Wenn ich mir die Berichte etwa der deutschen Konsuln und Botschafter nach Berlin anschaue, wenn ich mir auch die Berichte über die Sonderkriegsgerichte ab 1919 - es wurden von türkischen Richtern Urteile gesprochen - anschaue, dann komme ich persönlich zu der Auffassung, dass es keine irgendwie unglückliche Vertreibung gab, die zu negativen Ereignissen geführt hat, sondern eine kalkulierte Vertreibung mit dem Ziel, das armenische Volk zu vernichten. Deswegen erkläre ich für mich - viele Kollegen in meiner Fraktion stimmen dem zu -: Es handelte sich um einen Genozid, also um Völkermord.

(Beifall des Abg. Günter Nooke [CDU/CSU])

Das ist die eine Seite.

Wir müssen aber auch eine andere Seite berücksichtigen. Dabei geht es um die Frage: Welche Diskussion lösen wir mit Beschlüssen des Bundestages in der Türkei aus? Wenn wir hier einen Antrag verabschiedeten, in dem steht, der Deutsche Bundestag stellt fest: es war Völkermord; wir fordern die Türken auf, dies endlich zuzugeben - ich finde es richtig, dass die Union den Begriff Völkermord nicht verwendet hat -, dann würden wir nach meiner festen Überzeugung das Gegenteil von dem erreichen, was wir tatsächlich wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Bei unserer Verantwortung für die Opfer geht es nicht nur um das Gedenken - darum geht es auch -, sondern auch darum, dass wir - unabhängig davon, dass wir im Sinne historischer Wahrheit Recht haben - Recht bekommen in Bezug auf das, was in der Türkei und in Armenien und zwischen diesen beiden Ländern heute tatsächlich stattfinden kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wir sollten deswegen nicht mit der Geste von Richtern auftreten; vielmehr sollten wir uns subjektiv um Erkenntnisse und um die historische Wahrheit bemühen. Aber wir sollten den Diskussionsprozess in der Türkei - er hat positiv begonnen; ich verweise auf die zarten Pflanzen einer Erinnerungskultur - wirklich aktiv und offensiv unterstützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Deshalb gilt an diesem Tag unser Respekt denen, die in der Türkei jetzt darüber offen diskutieren, Menschen, die mit einer offenen Diskussion viel riskieren, aber auch denen, die in der türkischen Regierung und im türkischen Parlament erkennen, dass man sich in diesem Land der historischen Verantwortung annähern muss, wenn auch nur schrittweise. Wir haben also nicht auf die Türkei zu zeigen mit der Absicht, irgendjemanden zu entlarven oder vorzuführen, sondern wir haben eine Diskussion zu führen, in der wir den europäischen Standard vertreten, dass man nämlich in Europa reflexiv über die eigene Geschichte, auch über die Schattenseiten der eigenen Geschichte, diskutiert. Wir müssen alle in der Türkei einladen, diese auch schmerzhafte Diskussion europäisch miteinander zu führen.

Ein Kernelement der europäischen Wertekultur ist, dass es freie Diskussionen über strittige Fragen geben kann. Zur Aufklärung gehört, nicht immer nur die Vernunft zu betonen, sondern auch die Schattenseiten und ihren Missbrauch zu sehen.

Ich will für meine Fraktion noch einmal Folgendes sagen: Wir hoffen und wünschen, dass der Weg des türkischen Volkes und der Türkei zur europäischen Wertegemeinschaft und zur Europäischen Union eines Tages erfolgreich abgeschlossen werden kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Dass die Diskussion zwischen den Türken und den Armeniern schmerzhaft und schwierig ist, ist angesichts dieser Geschichte klar. Es ist schwer, historische Tabus aufzubrechen. Das ist mit Schmerzen verbunden. Ich bin der Überzeugung, dass man die Bewältigung geschichtlicher Probleme manchmal erleichtern kann, indem man in der Gegenwart anfängt. Deswegen möchte ich betonen, dass es der Versöhnung zwischen dem armenischen Volk und der Türkei sehr viel helfen würde, wenn jetzt endlich die Grenzen geöffnet und normale diplomatische Beziehungen aufgenommen würden, und zwar jeweils ohne Vorbedingungen. Dies kann kein Prozess sein, in dem es heißt, gehe du den ersten Schritt, sondern das muss zusammen gemacht werden. Ich bin der Überzeugung, dass manche Diskussion in der Türkei einfacher wäre, wenn es heute zu mehr Austausch und zu mehr Kontakt zwischen Bürgern und Bürgerinnen aus Armenien und der Türkei kommen könnte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich möchte zum Schluss kommen und der CDU/CSU dafür danken, dass sie den Antrag eingebracht hat. Der Antrag hat eine rege Diskussion ausgelöst, auch wenn wir im Einzelnen noch Veränderungen erreichen wollen. Wir werden im Ausschuss und in Vorgesprächen zwischen allen Fraktionen diskutieren. Die Diskussion ist, glaube ich, durch die öffentliche Berichterstattung in den letzten Wochen und Monaten sensibler geworden. Wir wollen auch einen offenen Diskurs mit den Abgeordneten und mit der Bevölkerung in der Türkei. Wenn dies mit der Debatte heute angestoßen wird, dann haben wir ein gutes Stück Arbeit geleistet für eine positive europäische Erinnerungskultur, die keine Opfer tabuisieren kann.

Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich bei Ihnen, Kollege Kuhn, und auch bei allen anderen Kollegen, die geredet haben, bedanken, und zwar für die große Übereinstimmung, für die große Sachlichkeit und Ernsthaftigkeit, die in einem großen Gegensatz zu den aufgeregten und diffamierenden Anklagen mancher in der Türkei in diesen Tagen steht.

Ich möchte der Debatte einige Anmerkungen hinzufügen:

Erstens. Wir als Deutsche haben keinen Grund, auf andere herabzublicken; niemand hat das hier im Parlament getan. Wir sind uns unserer deutschen Verantwortung für den einzigartigen industriellen Massenmord in unserer Geschichte, den Holocaust, und auch der Mitverantwortung des Deutschen Reiches für die Massaker an den Armeniern bewusst.

Zweitens. Viele bei uns sagen, dass wir Deutsche uns unserer Vergangenheit gestellt hätten und der Vergangenheit ins Auge schauen würden, während die Türken verdrängen und beschönigen würden. Das ist wohl wahr. Aber das liegt nicht daran, dass wir Deutschen bessere Menschen als die Türken sind.

Es ist nämlich, wenn man nach dem Grund spürt, für die Türken auch schwerer, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Denn Deutschland hatte mit dem 8. Mai die totale Niederlage und Kapitulation, den totalen Zusammenbruch, und die Bundesrepublik Deutschland wurde in Diskontinuität, ja als Gegenbild zum nationalsozialistischen Deutschland gegründet. Es war von Anfang an Teil dieses Gegenbildes, sich mit Auschwitz offen auseinander zu setzen, so schwer die Einsicht in die Wahrheit uns Deutschen auch gefallen ist und vielen bis heute fällt.

Anders in der Türkei. Ein Schuldbekenntnis greift in den Augen der meisten Türken auch die moderne Türkei an, zumindest den Gründungsmythos der Türkei. Denn dieser Gründungsmythos porträtiert diese Phase der türkischen Geschichte als den nationalen Kampf gegen den europäischen Imperialismus. Die Zwangsdeportationen der Armenier erscheinen seit den Jungtürken in der Türkei als Verteidigungsmaßnahme zur Rettung des Vaterlandes gegen den inneren armenischen Feind.

So haben es Generationen von Türken in der Schule gelernt. Sie haben ebenso gelernt, dass die erdrückende Dokumentenlage in europäischen und amerikanischen Archiven nichts ist als Kriegspropaganda mit dem Ziel, die Türkei klein zu halten.

Drittens. Es führt deshalb nicht weiter, mit Druck auf die Türkei endlich die Anerkennung des Völkermordbegriffes durchzusetzen. Es wird die Türken wenig beeindrucken, wenn wir hier, wie das andere Parlamente getan haben, die Entscheidung treffen, dass auch wir der Meinung sind: Das ist Völkermord.

Wir wollen eben nicht anklagen. Wir wollen nicht beschönigen, aber wir wollen die Türkei auch nicht in die Ecke stellen. Wir wollen nicht mit dem Knüppel kommen. Es geht uns um Klärung und nicht um Angriff. Es geht uns um Warnung und nicht um Bloßstellen. Wir wollen diejenigen in der Türkei ermutigen, die sich den Schrecken von 1915 und 1916 stellen.

(Beifall im ganzen Hause)

Viertens. Es ist mir wichtig festzustellen, dass keiner bei uns Gebietsansprüche der Armenier an die Türkei unterstützt, allerdings auch nicht die Grenzblockade und Isolierung Armeniens.

(Beifall im ganzen Hause)

Fünftens. Es geht auch nicht um eine Kollektivschuld der Türken. Schuld ist wie Unschuld immer persönlich und nie kollektiv. Heutige Generationen sind sowieso nicht schuldig. Aber auch die damaligen Türken waren keinesfalls alle der Meinung, dass das, was dort geschah, richtig und menschlich ist.

Übrigens beschreibt das Franz Werfel in seinem wunderbaren Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" sehr eindrucksvoll. Er beschreibt nämlich Situationen, wo Türken und Armenier zusammen weinten, als armenische Familien aufgefordert wurden, auf die Todesmärsche zu gehen, und wie sie vor dem Mudir auf die Knie gingen und flehten: "Lasst sie bei uns! Sie haben nicht den richtigen Glauben, aber sie sind gut. Sie sind unsere Brüder. Lasst sie hier bei uns!" Es geht also nicht um die Verdammung der Türken oder der Türkei, genauso wenig wie es richtig wäre, alle Deutschen für die Untaten der Hitler-Zeit in die Schuld zu nehmen.

Sechstens. Trotzdem sagen wir: Die Türkei sollte sich der Wahrheit öffnen. Es macht - Herr Kollege Meckel hat das sehr schön gesagt - eine Nation nicht größer, wenn sie die Augen vor den dunklen Zeiten ihrer Geschichte verschließt. Ich glaube in der Tat, dass das Gegenteil der Fall ist. Wenn man im persönlichen Leben, aber auch sonst die Kraft hat, sich der eigenen Fehler, Irrtümer und Irrwege zu stellen, wird man hinterher eher stärker und nicht schwächer. Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung, sagte Richard von Weizsäcker in seiner Rede am 8. Mai 1985.

(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Eine jüdische Weisheit!)

Siebtens. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier? Kollege Meckel hat diesen Satz von Adolf Hitler, der in den Akten des Auswärtigen Amtes dokumentiert ist, zitiert. Wenn wir uns nicht erinnern, dann wird die Gefahr der Wiederholung größer. Wenn wir uns nicht erinnern, wenn sich die Türken nicht erinnern, wenn es möglich ist, solches Grauen in Europa und den angrenzenden Gebieten zu begehen, ohne dass daran heute erinnert wird, dann besteht die Gefahr von Nachfolgeaktionen.

Achtens. Mit der Debatte zu unserem Antrag wollen wir die Annäherung der Türkei an Europa - das betone ich ausdrücklich - nicht mit einem neuen Hindernis belegen.

(Beifall im ganzen Hause)

Wir haben unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie dieser Annäherungsprozess vollzogen werden sollte; aber wir alle haben das Interesse, mit der Türkei enger und freundschaftlich zusammenzuarbeiten. Es ist eher umgekehrt: Wir wollen die Annäherung der Türkei an Europa durch eine gemeinsame Erinnerungskultur verstärken.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Jorge Semprún hat in Weimar am 10. April eine große Rede gehalten. Mit Blick auf die Länder Mittel- und Osteuropas sagte er:

Eine der wirksamsten Möglichkeiten, die Zukunft eines vereinten Europas … zu bahnen, besteht darin, unsere Vergangenheit miteinander zu teilen, unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen. Der kürzlich erfolgte Beitritt von zehn neuen Ländern aus Mittel- und Osteuropa … kann kulturell und existenziell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden.

Das gilt auch - in einem anderen Zusammenhang - für die Türkei.

(Beifall bei der CDU/CSU
sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Neuntens. Die bisherigen offiziellen Reaktionen seitens der Türkei, vom Botschafter und vom Parlament, auf unsere Debattenbeiträge sind nicht ermutigend. Man hat die Bemühungen um Differenzierung in der Türkei bisher nicht gewürdigt. Das ist bedauerlich.

Zehntens und letztens. Es gibt aber auch großartige, ermutigende Signale aus der Türkei. Orhan Pamuk ist zitiert worden. Er hat ganz offen den Mut gehabt, von Genozid zu sprechen. Professor Berktay spricht von "ethnischen Säuberungen" und von 1 Million Toten und fordert, dass man darum trauern muss. In der Tageszeitung "Radikal" schreibt Ismet Berkan:

Jedoch wissen wir alle, dass in jenen Jahren Dinge geschehen sind, und selbst nach 90 Jahren seit diesen Vorkommnissen können wir heute noch immer nicht offen darüber reden, was damals genau geschah.

Es gibt inzwischen in der Türkei eine Initiative "Geschichte für Frieden": Juristen, Historiker, Pädagogen und Elternvereinigungen verwahren sich gegen die gezielte Geschichtsverfälschung in Schulbüchern und wollen ihre Kinder zu Achtung und Toleranz erziehen.

Vorgestern habe ich einen Brief von dem "Menschenrechtsverein Türkei - Deutschland" erhalten. In diesem Brief heißt es:

Es muss deutlich gemacht werden, dass der türkische Staat als Nachfolger des Osmanischen Reiches sich der historischen und moralischen Verantwortung zu stellen hat. Wir tragen dafür die Verantwortung. Wir Türken verneigen uns voller Achtung und Trauer vor den Opfern des Völkermordes an den Armeniern.

Ich glaube, dass das ein eindrucksvolles Dokument ist.

Vielleicht gelingt es uns mit den differenzierten Tönen, die wir im Rahmen unserer heutigen Debatte aus allen Parteien gehört haben, ja doch, dazu beizutragen, dass man sich in der Türkei diesen Fragen etwas mehr öffnet. Dann kämen wir gemeinsam, auch auf dem Weg zum vereinten Europa, ein Stückchen voran.

(Beifall im ganzen Hause)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan, SPD-Fraktion.

Dietmar Nietan (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn sagen, dass nur diejenigen, die nicht am Dialog interessiert sind, und nur diejenigen, die etwas zu vertuschen haben, die heutige Debatte als Hetze gegen oder Beleidigung der Türkei bezeichnen können.

(Beifall im ganzen Hause)

Dafür, dass alle Kolleginnen und Kollegen, die vor mir gesprochen haben, dazu beigetragen haben, dass wir in dieser verantwortungsvollen Weise mit diesem sehr schwierigen Thema umgehen, möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen allen bedanken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

"Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal." Diese eindringliche Mahnung richtete Elie Wiesel am 27. Januar des Jahres 2000 von diesem Rednerpult aus an alle Menschen. Das ist eine Mahnung, die auch für uns Abgeordnete des Deutschen Bundestages wichtig ist und die uns daran erinnern sollte, unseren Beitrag zur Versöhnung zu leisten, indem wir dem Vergessen das Erinnern als Grundlage von Versöhnung und verantwortlichem Handeln entgegenhalten.

Ich finde, dass es für uns - auch für mich als Vertreter der jungen Generation - eine große Verpflichtung ist, dort, wo es möglich und sinnvoll ist, zur Versöhnung beizutragen. Dies resultiert aus der Verantwortung, die wir alle für die unvorstellbaren, präzedenzlosen Verbrechen haben, die in deutschem Namen gegen die Menschlichkeit begangen wurden.

In diesem Sinne gibt es gute Gründe für den vorliegenden Antrag der Kolleginnen und Kollegen der CDU/ CSU-Fraktion. Aber ich sage auch: Das gilt ausdrücklich nur dann, wenn die Verstärkung der deutschen Bemühungen für eine Versöhnung zwischen Türken und Armeniern bei der weiteren Beratung dieses Antrags wirklich unser Hauptanliegen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb sollten wir auf der Grundlage des vorliegenden Antrags mit der notwendigen Geradlinigkeit und mit dem Mut zur Ehrlichkeit einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen dieses Hauses erarbeiten. Ich will noch einmal unterstreichen, was bereits manche Kolleginnen und Kollegen gesagt haben: Uns allen wird es dabei um Versöhnung, nicht um Anklage gehen.

(Beifall im ganzen Hause)

Die Gründung der Europäischen Union und der Erfolg der großartigen Idee der Europäischen Union beruhen auf dem Willen zur Versöhnung. Wer könnte das besser behaupten als wir Deutsche? Denn unsere schnelle Wiederaufnahme in die europäische Gemeinschaft demokratischer Staaten ist für uns wegweisend. Sie zeigte den Mut unserer Nachbarstaaten, uns zu vergeben, obwohl wir ihnen großes Leid angetan hatten. Gerade deshalb muss es für uns alle ein entscheidender Punkt, eigentlich der Ausgangspunkt all unserer Bemühungen sein, dass das Gedenken an das Schicksal von mehr als 1 Million Armeniern, die Opfer von staatlicher Vertreibung und Vernichtung wurden, immer im Vordergrund unserer Beratungen steht.

Wir können die Opfer zwar nicht mehr lebendig machen, aber wir sollten immer wieder und unverzagt dafür Sorge tragen, dass sie niemals, wirklich niemals vergessen werden.

(Beifall im ganzen Hause)

Das Buch über die europäische Geschichte wäre nicht komplett, wenn es darin nicht auch Seiten gäbe, auf denen diesen Opfern, den Armeniern, ein ehrendes Gedenken bereitgestellt würde.

Ich will noch einmal unterstützen, was manche Kolleginnen und Kollegen bereits gesagt haben: Der Bundestag ist nicht der Ort, an dem historische Urteile gefällt werden sollten. Das hat bereits die überwiegende Zahl seriöser Historiker getan, die die Verbrechen an den Armeniern eindeutig als Völkermord bezeichnet haben.

Unsere Aufgabe ist in der Tat, einen Beitrag zu einem aufrichtigen Umgang mit unserer europäischen Geschichte zu leisten. Deshalb sollten bei der weiteren Arbeit an diesem Antrag aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion drei Punkte im Vordergrund stehen. Erstens. Der Deutsche Bundestag erkennt an, dass es im Ersten Weltkrieg - teilweise durch Vertuschung, teilweise durch Verwicklung, klammheimliche Billigung und Unterlassung von wirksamen Gegenmaßnahmen - eine deutsche Mitverantwortung für den Völkermord an den Armeniern gab.

(Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Deshalb will ich unterstreichen, was der Kollege Kuhn gesagt hat. Ich finde, in den überarbeiteten Antrag gehört auch eine Entschuldigung beim armenischen Volk.

Zweitens. Wir sollten alles tun, damit deutlich wird, dass wir nicht anklagen wollen, sondern dass wir mithelfen wollen, dass unsere Freunde in der Türkei, die das Ganze bisher überwiegend noch verdrängen, diese Verdrängung beenden, sich der historischen Verantwortung für das, was das jungtürkische Regime getan hat, stellen und die Nachkommen der Opfer um Vergebung bitten.

Drittens - auch das ist hier schon gesagt worden -: Wir sollten alles dafür tun, dass die Zusammenarbeit und die Freundschaft zwischen Armenien und der Türkei weiter gefördert werden, dass die Beziehungen normalisiert werden. Denn die Isolierung, die von Armenien betrieben wird, ist eine gefährliche, die nicht im europäischen Sinne sein kann und die nicht dem europäischen Gedanken entspricht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will abschließend noch einmal unterstreichen - und ich glaube, das hat die heutige Debatte gezeigt -: Es geht nicht darum, der Türkei auf dem Weg in ein vereinigtes Europa Stolpersteine in den Weg zu legen. Ich gehöre zu denjenigen, die immer mit Überzeugung dafür eingetreten sind und das auch heute tun, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Ich habe große Hochachtung vor den Leistungen des türkischen Volkes, vor den Menschen in der Türkei, aber auch den türkischstämmigen Menschen, die hier leben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ CSU und der FDP)

Aber diese Hochachtung und Freundschaft gebietet es, ehrlich miteinander umzugehen. Ich glaube, dass es am Ende für keine Seite länger tragbar gewesen wäre, wenn wir aus falsch verstandener Freundschaft die Kultur des Schweigens mitgetragen hätten, nur weil wir meinten, damit den einen oder anderen türkischen Freund schonen zu können. Das ist keine wirkliche Freundschaft. Wirkliche Freundschaft ist, dass man um Ideen ringt, dass man sich die Wahrheit sagt. Wolfgang Thierse hat es so beschrieben: Wenn wir gemeinsam an der europäischen Erinnerung arbeiten, bedeutet das, dass die nationalen kollektiven Erinnerungen Schritt für Schritt von einer europäischen kollektiven Erinnerung abgelöst werden müssen. Das wird für alle ein schmerzhafter Prozess sein und dieser Prozess wird auch Zumutungen beinhalten. Aber ich sehe zu diesem Prozess, wenn wir dauerhaft ein wirklich vereintes Europa mit der Türkei werden wollen, keine Alternative. Ich hoffe, dass dadurch auch deutlich wird, dass es hier darum geht, den Weg nach Europa gemeinsam mit der Türkei zu gehen und nicht gegen sie.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie mir das noch erlauben, will ich hier einen letzten Punkt anfügen: Unser langjähriger, ehemaliger Kollege Dietrich Sperling hat sich, wie viele von Ihnen vielleicht noch wissen, immer für die Versöhnung im Kaukasus eingesetzt. Es gibt ein Schreiben von ihm, aus dem ich zitieren will: Er schlägt vor, darüber nachzudenken, was wir als Deutsche tun können, um die Konflikte dort zu mindern und zur Versöhnung beizutragen. Er sagt, wir sollten um eine unverfälschte Darstellung des damaligen Geschehens und der Motivierung seiner Akteure bemüht sein. Das würde eine internationale Zusammenarbeit, nicht ein Gegeneinander erfordern. Zu der sollten wir als Deutsche einladen und uns daran beteiligen, und zwar nicht unter dem Aspekt der Anklage anderer, sondern um uns mit unserem Anteil am damaligen Geschehen vertrauter zu machen. Wir sollten uns die Gewissheit verschaffen, dass wir uns über uns selbst nicht mehr belügen sollten. - Ich glaube, Dietrich Sperling hat Recht und seine abschließende Forderung, dass wir als Bundestag bzw. als Bundesregierung uns dafür einsetzen sollten, ein Forschungsvorhaben zu starten, das Deutschlands Rolle in der armenischen Frage klärt, ist wegweisend und unterstreicht noch einmal: Hier geht es auch um uns selbst und nicht um den Fingerzeig auf andere.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ CSU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Ich schließe die Aussprache.

Wir sind damit am Ende einer Debatte, bei der schon die Tonlage aller Beiträge deutlich gemacht hat, dass dies für dieses Haus nicht einer von vielen Dutzend Tagesordnungspunkten gewesen ist, mit denen wir uns in jeder Sitzungswoche auseinander zu setzen haben.

Angesichts manch verständlicher Besorgnisse, aber auch manch unverständlicher Verdächtigungen, denen dieser Antrag und diese Beratungen im Deutschen Bundestag in den letzten Wochen ausgesetzt gewesen sind, verdient es sicher festgehalten zu werden, dass der Deutsche Bundestag mit dieser Debatte und den sich anschließenden weiteren Beratungen in den zuständigen Ausschüssen seiner Aufgabe als Vertretung des deutschen Volkes und als politisches Forum der Nation in besonderer Weise gerecht geworden ist.

(Beifall im ganzen Hause)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4933 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.