OKI-Logo Stand der katholisch-evangelischen Ökumene.
Interview von Dr. Ralf Magagnoli
mit Prälat Dr. Nikolaus Wyrwoll

 

1. Frage:

Herr Dr. Wyrwoll, vor zehn Jahren, am 31. Oktober 1999 wurde die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre unterzeichnet. Katholiken und Evangelische schienen damals vor einem ökumenischen Durchbruch zu stehen. Jetzt, zehn Jahre später, hat man den Eindruck, als befinde man sich in einer neuen ökumenischen Eiszeit. Was sind Ihrer Ansicht nach die Gründe für die Verschlechterung der Beziehungen? Und wie sehr ist die "Ökumene der Profile" Ausdruck dieser Verschlechterung?

Dr. Wyrwoll:

Wenn ich gegen den Titel "Stand" der Ökumene protestiere, ist das schon eine erste Antwort auf diese komplexe Frage: es gibt keinen Stand, keinen Stillstand in dem Bemühen um die Einheit der Christen. Es gibt keine Eiszeit, es geht weiter, es gibt keine Verschlechterung. Es geht vieles ganz selbstverständlich und darum unauffällig.
Vor fünfzig Jahren kam der große Reformbischof Julius Döpfner im Städtchen Ochsenfurt an, um die neue Brücke zu weihen. Noch aus dem Auto sah er, dass der lutherische Pfarrer auch da war - und fuhr sofort kommentarlos nach Würzburg zurück.
Heute ist selbstverständlich der lutherische Superintendent der Sprecher der Kirchen in der Stadt Hameln, darum gebeten von den baptistischen, katholischen, methodistischen, reformierten Gemeinden…
Der 31. Oktober 1999 war kein Durchbruch. Praktisch alle lutherischen und reformierten Theologie-Professoren in Deutschland halten die Erklärung für falsch. Ich halte sie für richtig. Schon die erste Runde der katholisch-lutherischen Dialogs führte zum "Maltapapier" 1976, das Kardinal Willebrands vorstellte mit dem Fazit: "die theologischen Unterschiede rechtfertigen eine Kirchentrennung nicht."
Das Wort von der Ökumene der Profile halte ich für einen sympathischen Irrtum, es ist Ausdruck der wirklichkeitsfremden Stimmung von Verschlechterung und Eiszeit-Stillstand. "Katholisch" und "evangelisch" in Deutschland hat nur ein Profil. Das evangelische Profil ist schmaler als das der Katholiken und der Orthodoxen, die den gesamten Glaubensschatz der Traditionen unserer Mütter und Väter im Glauben weitergeführt haben. Alles, was ein deutscher Katholik bei den deutschen Evangelischen sieht, erkennt er als katholisch. Freilich findet er vieles Katholische nicht. Wir deutschen Katholiken sind mit allem einverstanden, was die evangelischen Christen sagen, außer mit dem, worin sie meinen, sich gegen uns profilieren zu müssen. Was sie gegen uns sagen, ist nicht etwas anderes, sondern eine Negation. Nicht zwei verschiedene Positionen treffen aufeinander, sondern ein Ja oder ein Nein zu Teilen unserer gemeinsamen Tradition. Das bringt die merkwürdige Situation, dass protestantische Theologen mir einfach nicht glauben, wenn ich ihre Position ganz und gar bejahe. Über die gleiche Situation mit hunderten protestantischer Theologen sprachen wir eben im Zusammenhang mit der Erklärung vom 31. Oktober 1999.
Meiner Meinung nach steht die katholisch-evangelische Ökumene vor der Frage, ob sie von theologischen Konsenserklärungen zur Aufnahme voller kirchlicher Communio übergehen will. Vielleicht ist nicht von einer Verschlechterung der Beziehungen zu sprechen, sondern von einer zögerlichen Unruhe vor diesem entscheidenden Schritt? Die "Ökumene der Profile" lenkt in dieser Situation vom Wesentlichen ab: Innerhalb der Gemeinschaft der Kirche ist eine Pluralität theologischer Profile durchaus möglich, ja wünschenswert.

2. Frage:

Welches sind die zentralen Punkte in der Ökumene, in denen Dissens herrscht?

Dr. Wyrwoll:

Der Grunddissens ist eine falsche Einschätzung der deutschen evangelischen und katholischen Christen, welche Partner den ökumenischen Dialog führen. Seit Jahren bin ich pro Monat eine Woche in Rom mit lutherischen Gemeinden und Pastoren, aber auch mit katholischen und gemischten Gruppen. Wir führen Gespräche mit den weltweit (griech: katholisch) wirkenden Einrichtungen des Vatikans und der Orden. Wichtigstes Ergebnis ist die Einsicht: wir Deutschen sind ja nur 2% der Christenheit, es gibt 98% , die ganz anders denken, beten, fühlen als wir. 70% der Kirchen sind in großer Einheit miteinander in einer "Communio von Kirchen", Gemeinschaft von Kirchen, eben alle katholischen Lokalkirchen, katholischen Bistümer in der "katholischen Kirche".
Wenn z.B. die VELKD mit der DBK spricht, die Vereinigung der lutherischen Kirchen in Deutschland mit den deutschen katholischen Bischöfen, sprechen zwei Lokalkirchen miteinander. Wenn der Lutherische Weltbund mit dem "Vatikan" spricht, spricht eine Lokalkirche mit dem Zentrum der größten und engsten ökumenischen Gemeinschaft von Lokalkirchen, dem ältesten "Ökumenischen Rat". Dissens herrscht über den Stellenwert des Dissenses: Muss die Vielfalt der Auslegungen wirklich kirchentrennend sein? Oder kann sie als Pluralität innerhalb der kirchlichen Communio Bestand haben?

3. Frage:

Eine sicher zentrale Rolle in dem Prozess der Entfremdung spielt das Dokument "Dominus Iesus" der Glaubenskongregation, das von evangelischer Seite immer wieder kritisiert worden ist. Wie ernsthaft kann man denn ökumenisch wirken, wenn die volle Kirchlichkeit des Gegenübers nicht anerkannt wird?

Dr. Wyrwoll:

Gleich vorneweg: Dominus Jesus ist ein gutes Dokument. Ich habe keine Kritik gehört, bei der ich sicher bin, dass der Kritiker das ganze Dokument gelesen hat. "Dominus Iesus" fordert von den Katholiken ökumenisches Wirken mit allen Kirchen und auch mit den christlichen Zusammenschlüssen, die sich nicht als Kirche bezeichnen. "Dominus Iesus" beschreibt genau, was "katholische Kirche" bedeutet und stellt in Nr. 17 fest, dass die evangelischen Kirchen nicht diese katholische = allgemeine = weltweite = umfassende Kirchlichkeit haben und nicht zu der ökumenischen Gemeinschaft von Kirchen gehören wollen, die man "katholische" Kirche nennt.
Die gleiche Feststellung machen die lutherischen Partner in der Zusatzerklärung zur Erklärung vom 31.10.1999. Sie lassen sich nicht vereinnahmen, und "Dominus Iesus" versucht nicht, sie zu vereinnahmen. Man sieht ja, dass eine Tradition, die alles bewahrt hat wie die anglikanische, ihren Platz in der katholischen Kirche findet, indem sie die eigene Begrenztheit wie jede Lokalkirche anerkennt.

4. Frage:

Ich antworte mit einer Frage: woher wissen wir, dass Jesus einlädt? Wir wissen es durch die Kirchen. Viele evangelische Christen sehen das Abendmahl als ein Zeichen der Liebe Gottes, im katholischen Verständnis ist es das Zeichen, das diese bunte ökumenische Gemeinschaft "Katholische Kirche" zusammenhält. Augustinus formuliert die wechselseitige Vertiefung zwischen dem Leib Christi, der Kirche, und dem Leib Christi, der Eucharistie:

Dr. Wyrwoll:

"Empfangt, was ihr seid: Leib Christi, und werdet, was ihr empfangt: Leib Christi." Wer alles bejaht, was die katholischen Kirchen in der Eucharistiefeier bejahen, der kann das durch die Teilnahme am Abendmahl bekräftigen. Das "Amen" beim Kommunionempfang ist dann ein Ja zum ganzen Leib Christi in der Gemeinschaft mit Papst und Bischöfen

5. Frage:

Apostolische Sukzession. Für die katholische Seite ist diese ja sehr wichtig, und sie spielt gerade auch für die Abendmahlsproblematik eine zentrale Rolle. Auf evangelischer Seite wird oft eingewandt, die apostolische Sukzession lasse sich nicht zurückverfolgen und sei eine historische Fiktion?

Dr. Wyrwoll:

Tatsächlich wird ab und zu von protestantischer Seite die Fiktion einer lückenlosen Handauflegung vorgestellt. In der katholischen Theologie ist die apostolische Sukzession nie auf eine historische Kausalkette von Handauflegungen reduziert worden. Die apostolische Sukzession ist für alle Christen von entscheidender Bedeutung: Unser Heil hängt davon ab, dass wir in Gemeinschaft mit Jesus Christus leben, der "derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit" (Hebr 13,8). Das evangelische sola scriptura ist ein Prinzip der apostolischen Sukzession, denn die Heilige Schrift verdankt sich dem Wirken der Apostel, denen der Auferstandene seinen Geist gesandt hat. Gemeinsam bekennen wir im Credo die apostolische Kirche. Das Wirken Christi geht weiter durch die Verkündigung des Evangeliums und die Feier der Sakramente.
Die apostolische Sukzession im bischöflichen Dienst macht ernst damit, dass Jesus sein Werk Menschen anvertraut hat, beginnend mit den Aposteln. Sie gehören zur sakramentalen Vermittlung der Gegenwart Christi konstitutiv hinzu. Gebet und Handauflegung sind biblisch bezeugte Zeichen der Gemeinschaft mit Christus durch die Gemeinschaft mit seinen Zeugen. Sprechen wir also von der uns gemeinsam bewegenden Frage der Gemeinschaft mit dem heute gegenwärtigen Jesus Christus.

6. Frage:

In dem Gundlach-Papier, das auf katholischer Seite als Affront gewertet worden ist, wird kritisiert, dass die katholische Kirche in Deutschland kaum handlungsfähig ist, weil die Bischofskonferenz faktisch ein Koordinationsorgan ist und jedes Bistum für sich wirkt. Wie berechtigt ist diese Kritik und gibt es dafür eine Lösung?

Dr. Wyrwoll:

Der Ökumenische Rat der Kirchen beruht auf dem Prinzip, dass jede Mitgliedskirche in ihren Angelegenheiten selbständig bleibt und die Genfer Zentrale nur ein "Koordinationsorgan" ist. Dasselbe gilt für die konfessionellen Weltbünde. Als die Bischofskonferenzen im neuen Kirchenrecht von 1983 gestärkt wurden, entschied man bewusst, die Bischöfe nicht an Mehrheitsentscheidungen der Bischofskonferenzen zu binden. Damit wird die Aussage des II. Vatikanischen Konzils respektiert, dass jedes Bistum voll und ganz Kirche Jesu Christi ist. Die Kirchlichkeit der Lokalkirche wird auf diese Weise gestärkt - und das ist ein ökumenisch vielversprechendes Prinzip.
Die Eigenständigkeit der Lokalkirche ist allerdings kein Freibrief für die Beschränkung auf Eigeninteressen - ganz im Gegenteil! Jeder Bischof, jede Lokalkirche ist aus sich heraus hingeordnet auf die Communio mit allen anderen Bischöfen und Lokalkirchen. Jede Lokalkirche trägt Mitverantwortung für die gesamte Kirche. Das sollte sich auch auf die Entscheidungsfindung einer Bischofskonferenz auswirken. Wenn hier Defizite auftreten, dann sind sie nicht durch eine straffere Bürokratie zu überwinden, sondern durch die Besinnung auf die gemeinsame kirchliche Verantwortung.

7. Frage a:

Frau Käßmann ist zur Ratsvorsitzenden der EKD gewählt worden. Welche Impulse erwarten Sie von ihr?

Dr. Wyrwoll:

Ich gehe davon aus, dass die Mitgliedskirchen der EKD - wie ich es eben von den katholischen Lokalkirchen sagte - zunächst aus den Impulsen ihres eigenen Kirche-seins leben und nicht auf Weisung von oben warten. Die Ratsvorsitzende hat die Charismen der einzelnen wie der Gemeinden und Gemeinschaften zu fördern und zu koordinieren.

7. Frage b:

Und wie wird sich die Wahl einer geschiedenen Frau auf den ökumenischen Dialog auswirken?

Dr. Wyrwoll:

Das Problem "geschiedene Frau" führt seit langem zu heftigen Auseinandersetzungen in den deutschen lutherischen Kirchen. Die schwappen wohl auf manchen internationalen Dialog über, etwa mit den orthodoxen Kirchen, aber auf den lutherisch-katholischen Dialog in Deutschland anscheinend überhaupt nicht.
Die Gemeinschaft der Glaubenden erschließt Lebensperspektiven aus dem Glauben, die einen versöhnten Umgang mit Scheitern und Schuld einschließen. Das erfordert Demut von allen Seiten, besonders wenn das persönliche Geschick durch ein kirchliches Amt zu einem öffentlichen Zeichen wird. An einem norddeutschen Fachwerkhaus habe ich die Inschrift entdeckt: "Freund, sieh auf dich und nicht auf mich, und fehle ich, so bess’re dich."

8. Frage:

Auf evangelischer Seite wird immer wieder das Konzept der Versöhnten Verschiedenheit ins Spiel gebracht, das die evangelischen Kirchen auch untereinander praktizieren. Warum kommt es für die Ökumene mit der katholischen Kirche nicht in Frage?

Dr. Wyrwoll:

Wenn das Prinzip der versöhnten Verschiedenheit meint, dass die Vielfalt innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft Lebensraum hat, dann ist dieses Prinzip in der katholischen Kirche verwirklicht, und in dieser Versöhntheit innerhalb der katholischen Kirche wäre auch für die spezifisch evangelischen Anliegen Platz.
Wenn versöhnte Verschiedenheit hingegen bedeuten sollte, dass es bei einem Nebeneinander ohne wechselseitige kirchliche Beziehung und Verantwortung bleibt, dann ist das Konzept in sich widersprüchlich und untheologisch.
Zwischen lutherisch und katholisch gibt es in Deutschland keine Verschiedenheiten wie z.B. zwischen lutherisch und reformiert oder zwischen den katholischen Lokalkirchen westlicher und östlicher Prägung. Zwischen lutherisch und katholisch gibt es in Deutschland ein Weniger oder Mehr, von lutherischer Seite der Vorbehalt, dass zuviel Falsches in der katholischen Kirche überliefert wird wie z.B. die Rolle des Papstes oder die Marienverehrung.

9. Frage:

Was können Katholiken und Lutheraner voneinander lernen? Und wo sehen Sie Anknüpfungspunkte für die Fortführung der Ökumene?

Dr. Wyrwoll:

Überall, wo Christen einander als Christen begegnen, wo sie beten, feiern, ihren Glauben leben und bezeugen, werden sie füreinander zu Zeuginnen und Zeugen des Glaubens, können sie voneinander lernen und miteinander von den "Zeichen der Zeit". Das gilt auch von Gemeinden, Gemeinschaften und Kirchen. Die christliche Wahrheit ist unausschöpflich und bringt ständig neue Welten hervor.
Mir wird es immer wichtiger, die sogenannte Ökumene nicht als eine Art kirchlicher Außenpolitik vom Leben unserer christlichen Gemeinschaften zu isolieren und an einige Spezialisten zu delegieren. Die Anknüpfungspunkte für die Fortführung der Ökumene sind dieselben wie für die Fortführung unseres Lebens aus dem Glauben. Unsere Freude im Glauben und unser ökumenisches Engagement wachsen (und schwinden) miteinander.

10. Frage:

Wo werden wir Ihrer Ansicht nach in zehn Jahren stehen? Wie wird sich die Ökumene bis dahin entwickelt haben?

Dr. Wyrwoll:

Wenn man mir 1979 dieselbe Frage gestellt hätte, dann hätte ich nicht voraussagen können, dass das ökumenische Zeugnis der Christen Europas dazu beitragen würde, die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland und den Eisernen Vorhang zwischen Ost- und Westeuropa zu beseitigen. So aber geschah es Ende der 80er Jahre: durch die Europäische Ökumenische Versammlung Frieden in Gerechtigkeit Pfingsten 1989 in Basel, durch die ökumenischen Treffen in der ehemaligen DDR, die friedlichen Gebete und Demonstrationen um die Leipziger Nikolai-Kirche usw.
Der Kairos des Handelns Gottes tritt häufig ganz unerwartet und überraschend in den Chronos unserer geplanten Zeit ein. Da halte ich es mit Dietrich Bonhoeffer: Unser Beitrag besteht im Beten und im Tun des Gerechten - und in der Hoffnung auf die Stunde Gottes.
Vor 150 Jahren war eine sichtbare Einheit der Christen ebenso undenkbar wie die Deutsche Einheit von 1989. Im Ersten Vatikanischen Konzil wurde sie wenigstens möglich durch die Befreiung von Papst und Bischöfen von der Jurisdiktion der Kaiser und Könige. Auch die evangelischen Kirchen werden seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr von Staatsbeamten geleitet, mittlerweile sind alle Landeskirchen in Deutschland Frei-Kirchen geworden. Ich kann verstehen, wenn manche evangelische Kirchen diese neue Freiheit gefährdet sehen durch zu engen ökumenischen Zusammenschluss.

 

© KNA Ökumenische Information
Nr. 4 / 26. Januar 2010. S. 12 - 16.