OKI-Logo Predigt zur St. Ansgar-Vesper
Hamburg, 3. Februar 2009

 

Seit 1965 feiern die Christen in Hamburg das Fest des Stadtgründers Bischof Ansgar am 3. Febraur mit einer feierlichen Vesper in der lutherischen Hauptkirche St. Petri.
Klaus Wyrwoll hielt die Predigt 2009.

 

Liebe Schwestern und Brüder,

Feuertaube - Symbol der Ökumenische Versammlung Basel Pfingsten 1989jeden Tag, wenn ich mich anschicke, die Vesper zu beten, mit den Studenten im Ostkirchlichen Institut in Regensburg, mit der rumänischen orthodoxen Gemeinde in Regensburg, allein, oder heute mit Ihnen in der Kirche des hl. Apostels Petrus, denke ich "jetzt beginnt der neue Tag". Es ist die wunderbare Tageseinteilung, die uns der Schöpfungsbericht zeigt, "da ward aus Abend und Morgen der erste Tag," "da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag." Wir haben es noch in unserer deutschen Sprache: vor dem Sonn-tag kommt der Sonn-abend, und unsere Schwestern und Brüder im Osten und Süden leben noch in dieser Tages-Einteilung, wenn in Israel auf dem Fahrplan steht "Zug fährt täglich außer Sabbat", dann fährt der Zug am Freitagabend nicht mehr, aber am Samstagabend fährt er schon wieder. Diese biblische Tageseinteilung "Abend und Morgen der erste Tag" hat fast sakramentalen Charakter: in der ersten Hälfte des Tages tut Gott etwas für uns, beschenkt uns mit einem Feierabend und einem Vespergebet und einem Abendessen und einer Nachtruhe. Und in der zweiten Hälfte des Tages, am Morgen, antwortet der Mensch in dieser Gnade mit seiner Tagesarbeit in Familie und Beruf und Gesellschaft.

Gott tut etwas für uns. Das ist das Erste. Gott tut es immer, sagt Martin Luther (1493-1546) in seiner Erklärung zum Vesper-Hymnus des Magnifikat, Gott tut es in den Heiligen - in den von Gott heil gemachten, sollten wir wieder neu mit dem hl. Paulus sagen. Die Heiligen ermutigen uns, uns selbst von Gott heilen zu lassen, sagt Martin Luther, "anrufen soll man sie", denn sie stellen uns vor Augen, was Gottes Gnade im Menschen wirken kann. Damals wie heute. Martin Luther: "Gott tut allezeit mehr als wir bitten; das ist seine Art, so tut es seine Macht. Darum habe ich gesagt: Die Maria will keine Abgöttin sein. Sie tut nichts; Gott tut alle Dinge. Anrufen soll man sie, dass Gott um ihretwillen gebe und tue, was wir bitten; im gleichen Sinne sind auch alle anderen Heiligen anzurufen, damit, ja gewiss, das Werk immer ganz allein Gottes Sache bleibe." Soweit Martin Luther.

Hamburgs Christinnen und Christen tun das nun mehr als die biblischen vierzig Jahre. Schauen auf den Bischof Ansgar mit der Kirche in seiner Hand und rufen ihn an, dass er die Gemeinde auch heute aufbaut und auferbaut. Noch mehr Heilige ermutigen uns, uns von Gott heilen zu lassen, wenn wir auf den Kalender schauen, 3. Februar. Unsere Gebete werden nach Armenien und in die östliche Türkei gelenkt durch den heiligen Bischof Blasius, der ebenfalls am 3. Februar im Kalender steht. Er starb im Jahre 316 als Martyrer, kurz nachdem Armenien im Jahre 301 als erster Staat der Welt das Christentum als Staatsreligion genommen hatte. Mit den neugeweihten Kerzen von Maria Lichtness lassen sich die Menschen am heutigen Tag dieses Bischofs Blasius segnen, der sich um Leib und Seele der ihm Anvertrauten sorgte, "Auf die Fürsprache des hl. Blasius befreie dich der Herr von Halsleiden und allem anderen Übel im Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes. Amen."

Unsere christlichen Schwestern und Brüder in den Kirchen im Osten Europas schauen heute am 3. Februar am Tag nach der Darstellung unseres Herrn Jesus Christus im Tempel, Mariä Lichtmess, auf zwei Menschen bei dieser Darstellung: Hanna und Simeon. Die hochbetagte Hanna ist uns Vorbild und Ansporn, ermutigt uns, sie nachzuahmen. Der Evangelist Lukas sagt: "Hanna trat hinzu und pries Gott und redete von ihm zu allen, die auf die Erlösung warteten" (Lk 2,32). "Nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen" (Lk 2,29f) sagt dabei Simeon. Diesen Frieden erbitten auch wir von Gott, die wir seinen Heiland sehen in dieser Vesper. Wir schauen auf den heiligen Ansgar und die anderen Heiligen nicht zurück. Sie sind ja bei Gott, also hier mitten unter uns stehen sie jetzt und preisen mit uns Gott am Beginn des Tages.

Und am Beginn des Jahres, in dem wir auf Gottes Wirken schauen in Johannes Calvin, geboren (10.7.)1509, und in Charles Robert Darwin, geboren am 12. Februar 1809. Und in Erzbischof Helder Câmara von Recife, geboren am 7.2.1909. Darwin entdeckte, dass die Entwicklung des Lebens auf den beiden Prinzipien von Zufall und Notwendigkeit beruht. Er verlor seinen eigenen Glauben an den persönlichen Gott. Wir aber danken Darwin, dass er das Weltbild der mechanischen Physik des 19. Jahrhunderts gesprengt hat und zur Notwendigkeit als Wissensprinzip den Zufall als Nicht-Wissensprinzip gestellt hat. Die Natur entzieht sich so der Festlegung und öffnet sich der Freiheit von Mensch und Gott. Darwins Entdeckung stärkt heute unseren Glauben an den Schöpfer. Helder Câmara wird der "Bruder der Armen" genannt. Nicht etwas "Vater der Armen" - das finde ich wichtig. Andere freilich nennen ihn einen Kommunisten.

Ignatianische Spiritualität

Das war ein kleiner Rundblick. Ich als dankbarer Schüler der Jesuiten - wie so manche hier in dieser Kirche St. Petri heute abend, nenne einen solchen Rundblick auf die Realitäten, in denen wir uns bewegen, weben und sind, "ignatianische Spiritualität". Der heilige Ignatius (1491-1556) selber nennt das in seinem Exerzitienbüchlein "Bereitung des Schauplatzes". In Gott leben wir, bewegen wir uns und sind wir (Apg 17,28).

Bete so, als hinge alles von Gott ab,
handle so, als hinge alles von dir ab.

hat Ignatius empfohlen. Aber da er wie sein Zeitgenosse Martin Luther spürte, wie die Heiligen "anzurufen sind, damit, ja gewiss, das Werk immer ganz allein Gottes Sache bleibe" (so Martin Luther), sagt Ignatius auch das scheinbare Gegenteil::

Bete so, als hinge alles von Dir ab,
handle so, als hinge alles von Gott ab.

Ignatius von Loyola - und Mary Ward, die hundert Jahre nach ihm einen Jesuitinnenorden gründet - lebten nicht in einer religiösen Nische, sondern mitten in ihrer Zeit mit ihren Spannungen und Aporien, hineingezogen oder bereits hineingeboren in das Zeitalter der Kirchenspaltungen, der sich verselbständigenden Philosophie, der aufstrebenden Naturwissenschaften. Starres Festhalten am Bestehenden aus Unsicherheit oder Angst hält Ignatius für Verleugnung der lebendigen Tradition.

Seit seiner Priesterweihe betet Ignatius inständig, er möge Christus zugesellt werden. Die Sicherheit, dass Gott der Vater ihn zu Christus hinzieht, gibt Ignatius die Kraft zur Hineinnahme in die Sendung des kreuztragenden Christus. Was das für uns bedeutet, schreibt Mary Ward an einen Jesuitenpater (P. Roger Lee SJ). In einer ersten Annäherung grenzt sie ihre im Gebet gewonnene Klarheit von dem bekannten Vollkommenheitsideal ab: "Es ist nicht der Zustand der Heiligen, deren Heiligkeit vor allem in jener Vereinigung mit Gott besteht, die sie über sich selbst hinaushebt"; das "Glück dieses Standes" sieht Mary Ward "in einer besonderen Freiheit von aller Anhänglichkeit an irdische Dinge, verbunden mit voller Bereitschaft und Tauglichkeit zu allen guten Werken. Dabei entdeckte ich auch die Freiheit, die darin besteht, dass eine solche Seele alles auf Gott bezieht".

Unter dem Begriff der "gerechten Seele" wird diese Einsicht Mary Wards zum Angelpunkt für das christliche Sendungsverständnis. "Damals fiel mir ein", setzt sie ihren Brief fort, "und so steht es mir noch vor der Seele, dass sich die Menschen im Paradies vor dem ersten Sündenfall in diesem Zustand befanden. Es kam mir dann vor..., dass unser Herr mich dies sehen ließ, weil er mich auf diesen Weg einladen und mir zur rechten Zeit die Gnade geben wollte, wenigstens einigermaßen zu einer solchen Verfassung zu gelangen. Das Wort Gerechtigkeit, die in früheren Zeiten als Gerechte bezeichnet wurden, Werke der Gerechtigkeit, in denen sich keine Schuld findet; dass wir so seien, wie wir erscheinen, und erscheinen, wie wir sind: dies alles drängte sich seither meinem Geist oft auf"...

Eine kühne Folgerung schließt Mary Ward an: "Bei dieser Gelegenheit dachte ich auch, dass die Lebensweise der überzeugten Christen bis zum Ende der Welt fortdauern werde, weil sie zurückgeht auf den ursprünglichen Zustand". "Gut sein", heißt schlicht das Ziel, zu dem Mary Ward einläd: "Ich bitte demütig, erlangen Sie von Gott meine Besserung und helfen Sie mir, gut zu sein, wie teuer mir dies auch zu stehen kommen mag", bittet sie Pater Lee. Nicht nur "den Willen Gottes tun", sondern Gott seinen Willen in mir und durch mich wirken lassen, so dass die Sendung Jesu Christi im Heiligen Geist in mir Gestalt werden kann - so lässt sich Mary Wards und Ignatius Spiritualität zusammenfassen, "dass den Seelen zur Seligkeit zu verhelfen eine weit vortrefflichere Gabe sei als das klösterliche Leben, ja als das Martyrium selbst".

In dieser Sendungsgemeinschaft sind wir alle gemeinsam ausgeliefert Gottes unendlichem Heilswillen, Gottes unendlichem Heiligungswillen, sind wir alle Societas Jesu, Gesellschaft Jesu, Congregatio Jesu. Wir wissen, gleichwie der Vater Jesus gesandt hat (Jo 20,21), so sendet Jesus uns, zusammen mit Anna und Simeon und Blasius und Ansgar und Ignatius, auch zusammen mit Johannes Calvin und Mary Ward und Darwin und Helder Câmara. Confessio Augustana XXI: dass man der Heiligen gedenken soll, auf dass wir unseren Glauben stärken, so wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren, auch wie ihnen durch Glauben geholfen ist; dazu, dass wir Exempel nehmen von ihren guten Werken. Die Identität der Sendung des Christen mit der universalen Heilssendung Jesu Christi kommt in der ignatianischen Spiritualität staunenswert zum Ausdruck.

Nicht einzelne apostolische Dienste sind unsere Bezugspunkte, sondern die Welt als Ort der Sendung Jesu Christi. "Es gibt Sendungen, die für die ganze Welt sind - und diese ist unser Haus. Wo immer unsere apostolischen Dienste benötigt werden oder von größerem Nutzen sind, dort ist unser Haus".

Ignatianische Menschen "wissen um ihr Ziel, für das Heil und für die Vollkommenheit aller Seelen zu sorgen... auf nichts anderes bedacht, als Jesus Christus nachzuahmen, der nichts hatte, wohin er sein Haupt legen konnte, und die ganze Zeit seines Predigens auf Pilgerfahrten verbrachte".

"Denn das ist die besondere Eigenart unserer Berufung, dass wir von Gott und der Kirche die Sorge für diejenigen erhalten haben, um die sich niemand kümmert." Was ihr dem geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mit getan (Mt 25,40), an den unterschiedlichsten Orten, jeder in seinem kleinen Bereich, in allen kleinen Bereichen, die plötzlich sich vor uns auftun als Ort unserer Sendung in der ruhigen Gewissheit Martin Luthers, dass wir von den Heiligen lernen: "Gott tut alle Dinge"

Mit der Geistesgeschichte der Zeit sind Ignatius und Mary Ward besonders eng verbunden durch das Freiheitsverständnis, das sich in ihnen Bahn bricht. Während manche Reformatoren um Gottes willen die menschliche Willensfreiheit aufgeben; während die aufstrebenden Naturwissenschaften und philosophischen Denker sich vielfach genötigt sehen, um der menschlichen Freiheit willen Gott zu leugnen; während der Streit der theologischen Schulen über das Verhältnis von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit in Aporien endet, werden bei Ignatius und Mary Ward wie selbstverständlich Freiheit des Menschen und Freiheit Gottes miteinander entdeckt und wachsen im Vollzug gleichsinnig.

Ein Bild, das Mary Ward schon früh in der Verteidigung ihres Instituts anführt, macht diesen Zusammenhang anschaulich: "Wenn es schon unrecht wäre, irgendeinen Privatmann zu zwingen, eine Frau zu heiraten, die er nicht liebt, so muss um so mehr die Wahl der je eigenen Berufung frei sein; denn da der Partner niemals stirbt, dauert die eigene Berufung nicht nur für den Zeitraum des Lebens, sondern bestimmt unseren Platz mit Christus für alle Ewigkeit". Folglich sei es erst recht angemessen, dass "Gott als der König der Könige wählt seine Bräute selbst, Gott und nicht der Mensch ist Urheber von Berufungen", sagt Mary Ward.

Mary Wards Freiheitsverständnis kann zum Schlüssel für die Interpretation einer charakteristischen Kurzformel der ignatianischen Spiritualität werden. Sie heißt: "Gott in allen Dingen finden". "Gott in allen Dingen finden", das entdecken wir gerade heute im Zuge der neuen Aufmerksamkeit für die Schöpfungslehre. Dieses Wort "Gott in allen Dingen finden" wird vor einseitigen Interpretationen bewahrt, die begrifflich in die Nähe eines Pantheismus geraten, wenn wir uns deutlich machen, dass es dieser freie Gott ist, den wir "in allen Dingen finden". Er begegnet uns nicht als der Verfügbare, der seinen eigenen, von uns erkennbaren und handhabbaren Gesetzen Unterworfene, sondern als der frei Wählende und sich Schenkende und insofern stets auch als der Entzogene. "Zufall" sagt Darwin.

Die Gotteserfahrung nach Ignatius und Mary Ward umschließt gerade im Bewusstsein der Freiheit Gottes auch die Erfahrung der Gottferne der modernen Welt. Zu recht wurden die geistlichen Gespräche, die Ignatius während seiner Studienzeit führte lange bevor er Priester wurde, und die geistlichen Unterrichtungen der Mary Ward und ihrer Gefährtinnen als priesterliches Tun ausgelegt, Ignatius mit zahlreichen Inquisitionsprozessen verfolgt und Mary Wards Ordensgründung schon 1631 aufgehoben. Die Sendung ist eine priesterliche Sendung. Ignatianische Spiritualität betont, dass jede und jeder in der Taufe gesalbt ist, um als königlicher Priester, als königliche Priesterin "Gott in allen Dingen zu finden".

Gott ist alles in allem.

Damit möchte ich den Kreis schließen, mit einer weiteren Realität aus dem Kalender. Vor fast genau 20 Jahren, Samstag der Pfingstwoche 1989, erhoben sich die in Basel versammelten Delegierten der "Europäischen Ökumenischen Versammlung" auf Einladung des Sitzungspräsidenten von ihren Plätzen. Nach einer Minute des gemeinsamen Schweigens und Betens erfolgte die Schlussabstimmung. Mit der überwältigenden Mehrheit von 95,4 % nahmen die Anwesenden das Dokument an: "Frieden in Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung." Dieses Dokument Pfingsten 1989 ist ein ökumenischer Konsens über alle sprachlichen, kulturellen, politischen und konfessionellen Grenzen Europas hinweg war errungen. Dass damit die unerwartete und unplanbare Öffnung vieler Grenzen in Europa im Zeichen vorweggenommen und vielleicht im wirksamen Zeichen vorbereitet war, ahnten die Delegierten wohl kaum, als sie in ihrer "Botschaft an die Christen Europas" die Zuversicht aussprachen: "Der Geist Gottes, der uns hier zusammengeführt hat, wird immer wieder weit über unsere Erwartungen hinaus wirken". Tatsächlich öffneten sich die Grenzen im Herbst des gleichen Jahres 1989. Der Konsens der 1. Europäischen Ökumenischen Versammlung von Basel Pfingsten 1989 liegt nicht in erster Linie auf der Ebene der kirchlichen Lehre; er beruht vielmehr auf dem gemeinsamen Bewusstsein und Bekenntnis, dass christlicher Glaube nicht individualistische Heilssicherung bedeutet, sondern Sendung, gemeinsame Sendung für die Welt.

"In dieser Sendung bestärke uns, o Herr, auf die Fürsprache Deiner Heiligen, denn auch alles, was wir ausrichten, dass hast Du für uns getan". Amen. Jes 26,12

 

Prälat Dr. Nikolaus Wyrwoll
Ostkirchliches Institut
Regensburg